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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 35.1914-1915

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Raphael, Max: Der Deutsche Stil
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https://doi.org/10.11588/diglit.7013#0484

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Der deutsche Stil.

KUNSTGEWERBESCHULE - HAMBURG.

SCHÜLERZEICHNUNG (I 3 — I 5 JÄHRIG).

Willen zum Ideal aus bestimmt haben, so werden
wir die entgegengesetzte Seite bei denjenigen
Meistern feststellen, die sich mit Bewußtsein
an die Dinghaftigkeit der Natur klammern, bei
den Vertretern einer realistischen Kunst. Wenn
sich das ganze Ausdrucksbedürfnis, die ganze
psychische Energie in einen bestimmten, bis in
seine individuellen Einzelheiten genau bestimm-
ten Gegenstand ergießt und diesen nun in seiner
naturhaften Existenz bis auf ein Höchstmaß
steigert. Ein geradezu klassisches Beispiel dieser
Art ist der große, namenlose Meister der Naum-
burger Domskulpturen. Man vergegenwärtige
sich bei der nachfolgenden Beschreibung des
Abendmahl-Reliefs das bekannte Werk Lio-
nardos, um den ungeheuren Unterschied zwi-
schen deutscher und italienischer Phantasie, ja
das Entsetzen des Südländers zwischen den
Zeilen zu lesen: .....Im übrigen das Vesper-
brot an einem Bauerntisch . . . Nur die vier
Apostel sind in ihrer Art bei der Sache. Petrus
stopft sich den Mund voll. Johannes ist im Be-
griff, sich in ein blaues Taschentuch zu schneu-
zen. Andreas hat den enghalsigen Weinkrug
an den Mund gesetzt und ist ganz in lange, an-

dächtige Züge versunken. Jakobus greift nach
den Fischen und schaut mit halbverhülltem Kopf
so fragwürdig aus dem Bilde, als wolle er sie
stehlen. Sie haben keine Ahnung, was da vor-
geht. Dazwischen die beiden, der Meister und
der Verräter. Judas, ein hübscher Junge, greift
in die Schüssel, die Augen spannungsvoll auf
den Herrn gerichtet. Derweile schiebt ihm
dieser über den Tisch herüber ein Brotstück in
den Mund, mit der Linken den Mantelsaum
hebend, damit er nicht in die Schüssel tunkt,
ein wundervoller Zug der Reinlichkeit. Aber
er würdigt den Falschen keines Blicks. Sein
Antlitz ist in die Höhe gerichtet. So hat der
Künstler das Verhältnis der beiden erfaßt, wie
es Hebbel wieder verstand: „Judas ist der
gläubigste der Jünger." Er will den Meister
zur Entscheidung zwingen. Er weiß und glaubt
fest, daß er in der Katastrophe die ganze Sieges-
macht entfalten wird." (H. Bergner: Naumburg.)

Diese Beschreibung selbst ist ein vorzügliches
Beispiel für die deutsche Phantasie durch die
Art, wie sie plastische Anschauung und ab-
strakte Idee mit einander wechselt. Das leitet
uns zur Frage, wie denn die germanische Phan-

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