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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 35.1914-1915

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Raphael, Max: Der Deutsche Stil
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https://doi.org/10.11588/diglit.7013#0486

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Der deutsche Stil.

Geburtsgabe, ein endloses Sehnen ihrer Besten
strebt danach. Ein ganz anderes ist es, was
das deutsche Denken von jeher charakterisiert:
die genetische Auffassung der Dinge. Die Welt
der Dinge ist ihm, der von vornherein durch
den Nachdruck des seelischen Erlebens auf den
Wandel und die Bewegung hingewiesen ist,
nicht eine schlechthin daseiende Realität, son-
dern ein in der Entwicklung begriffenes, in
stetem Fortschreiten sich bildendes, immer neu
sich formendes Werden. In diese Art der Welt-
auffassung hatte Eckehart das Gotterlebnis um-
gesetzt, mit ihr hat Goethe Gedanken Darwins
vorausgenommen. Oft wird nun von den Deut-
schen die organische Gestaltung der Romanen
der eigenen genetisch-biologischen Auffassung
gleichbedeutend gesetzt. Die Gegensätzlichkeit
dieser Erlebnisarten aber kann der moderne
Mensch mit dem Hinweis auf zwei der geschätz-
testen Maler der Gegenwart: auf Cezanne und
van Gogh plastisch umschreiben. Der Süd-
franzose hat sein Leben lang um die beruhigte,
gesetzmäßige Darstellung seiner Welt gerungen,
der Niederländer hat die realen Formen der
Dinge und des Raumes selbst in flammende
Bewegungs- und Entwicklungswerte umgesetzt.
Cezanne suchte das Bild, d. h. die unbeweg-
liche, unanfechtbare Substanz der Wirklichkeit,
van Gogh das glühende, unmittelbare Erlebnis
seiner Seele. Die gegenseitigen Äußerungen
über einander bezeugen die völlige Unverein-
barkeit ihrer Welten in ihren Grundlagen.

Wenn wir diese Andeutungen auf die Begriffe
zurückführen wollen, die Gerstenberg in seiner
Untersuchung über die deutsche Sondergotik für

das Wesen der deutschen Phantasie aufgestellt
hatte, so sehen wir, wie sich diese Begriffe in
sich spalten und in ihren Teilen wägen; daß bei
den Romanen wie bei den Germanen Irrationales
und Rationales, Stimmungshaftes und Faßbares
vorhanden waren, nur in anderen Zusammen-
hängen, mit anderen Inhalten und Absichten.

Vielleicht könnte an diesem Punkt ein Skep-
tiker, der bei voller Kenntnis der Tatsachen
diese Ausführungen liest, einwenden, daß man
zuerst die Frage nach der Möglichkeit eines
deutschen Stils prüfen sollte. Denn ob man
mehr das Zeitlich- oder das Völkisch-allgemeine
dem Stilbegriff zu Grunde legt, immer ist er
nur auf dem Fundament einer kollektiven All-
gemeinheit möglich. Nun charakterisiert den
deutschen Geist nichts so sehr als „die Idee
der persönlichen Freiheit", die den Stil als
solchen unmöglich macht. Schon Goethe be-
merkt zu Eckermann, daß diese — von dem
Gallier Guizot unserm Volke zuerkannte —
Eigenschaft „alles Treffliche und Absurde" zu-
gleich gebiert. Das Trefflichste sind die großen
Persönlichkeiten, die — die ganze Welt in sich
aufnehmend und in individueller aber allgemein-
gültiger Form wieder gebärend — die höchsten
Stufen bezeichnen, die menschliche Geistes-
kultur jemals erreicht hat: Goethe, Kant, Rem-
brandt, Eckehart. Das „Absurde" aber, das
das Geschick dieser Großen selbst lehrt, mag
man in Schillers Briefen über die ästhetische
Erziehung oder in dem vorletzten Kapitel von
Hölderlins Hyperion nachlesen, wo es als flam-
mende Klage und Anklage für ewige Zeiten
niedergeschrieben ist....... max Raphael.

KUNSTGEWERBESCHULE- HAMBURG. SCHÜLERZEICHNUNG (13 I 5 JÄHRIG).
 
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