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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 61.1927-1928

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Habicht, Victor Curt: Von der Formbeherrschung
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https://doi.org/10.11588/diglit.9249#0187

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Von der Formbchc7-rsclumg

HENRI MATISSE—PARIS

GEMÄLDE »ODALISKE«

bißchen einfältige Wissen — das z. B. bei Chi-
nesen selbstverständlich ist — besitzen sollten,
daß man dieses Erbe nicht ungeschehen machen
kann. Wichtiger ist fast noch die Einsicht, daß
irgend welche Zeitformen im sogenannten Civi-
lisatorischen nicht negiert, aber auch nicht als
Maßstäbe für irgend etwas Formbedürftiges
genommen werden können. Unmodern sind
stets nur die sogenannten „Künstler" geworden,
die sich auf ephemere Voraussetzungen gestützt
haben. Denn, um es noch einmal ganz deutlich
zu sagen, nicht etwa die Aufgabe oder die Red ens-
art vom „Zeitalter der Technik" haben Behrens
oder Corbusier formgerechte und zeitgemäße
Gestaltungen ermöglicht, sondern lediglich ihre
Herrschaft und Sicherheit i n der Form. Man
kann keinen Lehrplan aufstellen, wie diese Herr-
schaft erlangt werden kann. Diese Dinge wach-
sen, aber ganz ohne jede Frage nur auf einem
bestimmten Boden. Soviel man auch — ohne
Ahnung von natürlichen Gesetzen — von „Ur-
sprünglichkeit" und „Unmittelbarkeit" reden
mag, dieses Wachsens Boden ist Wissen, sicher
kein Spezialwissen nach den Rubriken europä-
ischer Gelehrsamkeit, aber doch ein Wissen.

Wenn das Unkraut eines zügellosen Denkens
heute üppig schießt und eine Einstellung pro-
pagiert wird, die sich gegen eine — eigentlich
gar nicht mehr ernstlich vorhandene — Über-
schätzung eines bestimmten Stiles und die sub-
alterne Abhängigkeit von einem solchen damit
richtet, daß sie jede Formerfahrung leugnen zu
müssen glaubt, so ist das das gerade Gegenteil
von dem, was Not tut. Zu den grausamsten
Irrtümern gehört ja auch der, der meint, daß
die sogenannte Kunst der „Primitiven" tradi-
tionslos, quasi aus dem Ärmel geschüttelt sei.
Wenn sie es schon bestimmt nicht ist, um wie-
viel weniger kann es irgend eine ernstzuneh-
mende europäische sein.

Man wird von mir kein Rezept verlangen.
Statt dessen möchte ich folgendes sagen. Als
ich im vorigen Jahre das von J. M. Olbrich er-
baute Sezessionsgebäude in Wien wieder sah,
war mir vollkommen klar, wie unendlich viel
von dem als „neuste Offenbarungen" gepriese-
nen Stil der jüngsten Architektur hier schon
niedergelegt war. Ich erinnerte mich dabei zu-
gleich an die Gedächtnisausstellung auf der
Mathildenhöhe in Darmstadt und an die un-
 
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