Gioj'gio de Chirico
Wer heute den Kubismus ablehnt, hätte früher
den Giotto und Masaccio gescholten. Denn
der Kunst ist nie mit Stimmung oder Sentimen-
talität (diese ist Inhalt) beizukommen. Man be-
achte endlich, daß die Architektur, die bei Schale
und Zelt beginnt, die Mutter der bildenden
Künste ist. Allerdings, die gründliche Erfindung
ist Ausnahmefall; denn die Kunst ist im ganzen
die Geschichte anonymer Unfälle, die für kurze
Zeit merkantile Bedeutung erstapeln.
Träume gelten als flirrende, schattenflüchtige
Spiegelei. Man hatte vergessen, daß sie viel-
leicht gesonderten Sinn besitzen. Seit Picasso
träumt man wieder präzis. Präzision ist unsere
menschlichste Eigenschaft; Stimmung ist Ge-
schäft der Kuh. Das Mathematische ist die
Katharsis der jetzt noch Gottlosen. Doch schon
versuchen einzelne wieder den Zahlen innigste,
weite und lebendige Bedeutung einzuschauen
Chirico kann vielleicht als ein Romantiker
der Zahl und ein Klassizist der Form bezeich-
net werden. Die inhaltliche Vision alterte ihm
später und ermüdete in diesen sehr toskanischen
Augen. Die klassizistische Gesinnung trat nun
stärker hervor. Dieser Klassizismus Chiricos
greift auf die frühen Italiener zurück, wie man
allenthalben das Jetzt in die Vergangenheit tie-
fer und zeitgieriger rückprojiziert.
Unsere Zeit hat einzige Chance sich zu ent-
wirren, soweit man tektonisch diszipliniert ar-
beitet. Nur von hier aus kann die Ordnung und
Sonderung der Künste gelingen. Tektonik ist
unser Menschlichstes und aus ihr wächst auto-
nome Kunst. Von dort aus ging Cbirico den
Weg zu einer verlorengegangenen Metaphysik,
die er neu zu dichten versucht.
Diese Bdder Chiricos stehen im Jenseits vom
Tage, sie sind von Dualismen beherrscht. Viel-
leicht erscheint Chirico der Tag als eisige über-
bevölkerte Hölle. Kindliche Schatten fliehen
hinter rollenden Reifen ins Dunkle oder die
Mannequins reflektiver Träume trauern in der
Hölle der Verlassenheit einsam auf verstorbenen
italienischen Plätzen.
Der pessimistische Dualismus Chiricos erweist
sich auch darin, wie in seinen Bildern die Dinge
einander ironisieren: Zeus gegen Blumenkohl.
Ihre Einheit ist die Struktur, worin das inhaltlich
Widerspruchsvolle seine Proportion finden will.
Die Geometrie scheint bei Chirico Traum und
Ahnung zu sein.
Solches lockt bei diesem Italiener: seine
Suche und Wissenschaft elementarischer und
mythischer Zustände; und in diesen trifft er die
Mathematik und das Dekorative. Hier steckt
etwas von 1920. Während was im Primitiven
pathetisch deklamierte, eine Dekoration meinte,
ohne elementare Zustände je berührt zu haben.
Und dies ist wichtig: Chirico kennt das kom-
plizierte, doch erschreckend Nahe der tatsächlich
durchlebten Träume. Der Mensch ist ihm das
konstruktive Mannequin der Gesichte.
Ich weiß nicht, warum mir die Bilder Chiricos
tragisch erscheinen. In der vollendeten Tragödie
bewundern wir den Sieg des Dichters über seine
Geschöpfe und ihre Erlebnisse; man genießt
letzten Endes die freudige Überlegenheit durch
Form. In der griechischen Tragödie, dieser
wundervollen Adoration der Götter, bestätigt
man das vernichtende Geschick; doch zwischen
aller Zerstörung verharrt unverletzt die Form,
unser Menschlichstes und Stärkstes.
Bei Chirico mag man „die Hölle der Ver-
lassenheit" spüren, ein erkältendes Alleinsein
in starren Träumen. Etwa ein Stück visionären
Racine's oder alchemistischen Aifieri's. Diese
Träume reichen zu keinen Knien von Göttern,
kaum zu Kollektivem; wiewohl diese leeren
Plätze, worüber der Schatten eines Kindes eilt,
oft den Schlafenden erscheinen. Dies mag es
sein: früher besassen Träume allgemeine aner-
kannte Bedeutung. Sie waren in die geistigen
Bezirke der Alten eingeordnet; jetzt sind sie
die Erlebnisse einer bodenlosen, wirren Ver-
lassenheit. Im Einsturz der Antike und ihrer
weitströmenden Überlieferung wurde Vieles und
gerade die visionären und ekstatischen Kräfte
sinnlos. Diese hingen als Rudimente verscholle-
ner Bezirke und Deutungen sinnlos in ver-
gessenen Schränken. Vielleicht berühren wir
hier das Tragische der Bilder Chiricos und
gleichzeitig ihre Zukunft. Ihr Tragisches ruht
vielleicht darin, daß die früher kollektiv bedeut-
samen Kräfte nun gänzlich subjektiv und will-
kürlich erscheinen, und man jetzt in dem früher
Kollektivsten und Bindenden einsam dämmert
und als Willkürlicher mißverstanden wird.
Das Erwachen archaischer Unterschichten
macht die klassizistische Tektonik begreiflich
und menschlich etwa notwendig. Ein Römer,
der träumt, schaut Geschichte, ähnlich wie ein
römischer Führer sein Unternehmen archaisch
fügt (siehe Mussolini). Noch sind diese Italiener
selbst im Elementaren die Schauspieler ihrer
Geschichte, die allzu lange tot war, und selbst
ihre Grundkräfte erscheinen irgendwie entliehen
In Chirico wird ein Stück italienischen Mittel-
alters lebendig, eine Renaissance der alten Schich-
ten leuchtet auf.
Dies ist bei Chirico eigentümlich. Diese Schau
von jetzt recht subjektiven Dingen und gleich-
zeitig ein archaisierender Atavismus. Tekto-
nische Revenants, Träume, die zuletzt ins Ver-
gangene müde zurücksinken.............
Wer heute den Kubismus ablehnt, hätte früher
den Giotto und Masaccio gescholten. Denn
der Kunst ist nie mit Stimmung oder Sentimen-
talität (diese ist Inhalt) beizukommen. Man be-
achte endlich, daß die Architektur, die bei Schale
und Zelt beginnt, die Mutter der bildenden
Künste ist. Allerdings, die gründliche Erfindung
ist Ausnahmefall; denn die Kunst ist im ganzen
die Geschichte anonymer Unfälle, die für kurze
Zeit merkantile Bedeutung erstapeln.
Träume gelten als flirrende, schattenflüchtige
Spiegelei. Man hatte vergessen, daß sie viel-
leicht gesonderten Sinn besitzen. Seit Picasso
träumt man wieder präzis. Präzision ist unsere
menschlichste Eigenschaft; Stimmung ist Ge-
schäft der Kuh. Das Mathematische ist die
Katharsis der jetzt noch Gottlosen. Doch schon
versuchen einzelne wieder den Zahlen innigste,
weite und lebendige Bedeutung einzuschauen
Chirico kann vielleicht als ein Romantiker
der Zahl und ein Klassizist der Form bezeich-
net werden. Die inhaltliche Vision alterte ihm
später und ermüdete in diesen sehr toskanischen
Augen. Die klassizistische Gesinnung trat nun
stärker hervor. Dieser Klassizismus Chiricos
greift auf die frühen Italiener zurück, wie man
allenthalben das Jetzt in die Vergangenheit tie-
fer und zeitgieriger rückprojiziert.
Unsere Zeit hat einzige Chance sich zu ent-
wirren, soweit man tektonisch diszipliniert ar-
beitet. Nur von hier aus kann die Ordnung und
Sonderung der Künste gelingen. Tektonik ist
unser Menschlichstes und aus ihr wächst auto-
nome Kunst. Von dort aus ging Cbirico den
Weg zu einer verlorengegangenen Metaphysik,
die er neu zu dichten versucht.
Diese Bdder Chiricos stehen im Jenseits vom
Tage, sie sind von Dualismen beherrscht. Viel-
leicht erscheint Chirico der Tag als eisige über-
bevölkerte Hölle. Kindliche Schatten fliehen
hinter rollenden Reifen ins Dunkle oder die
Mannequins reflektiver Träume trauern in der
Hölle der Verlassenheit einsam auf verstorbenen
italienischen Plätzen.
Der pessimistische Dualismus Chiricos erweist
sich auch darin, wie in seinen Bildern die Dinge
einander ironisieren: Zeus gegen Blumenkohl.
Ihre Einheit ist die Struktur, worin das inhaltlich
Widerspruchsvolle seine Proportion finden will.
Die Geometrie scheint bei Chirico Traum und
Ahnung zu sein.
Solches lockt bei diesem Italiener: seine
Suche und Wissenschaft elementarischer und
mythischer Zustände; und in diesen trifft er die
Mathematik und das Dekorative. Hier steckt
etwas von 1920. Während was im Primitiven
pathetisch deklamierte, eine Dekoration meinte,
ohne elementare Zustände je berührt zu haben.
Und dies ist wichtig: Chirico kennt das kom-
plizierte, doch erschreckend Nahe der tatsächlich
durchlebten Träume. Der Mensch ist ihm das
konstruktive Mannequin der Gesichte.
Ich weiß nicht, warum mir die Bilder Chiricos
tragisch erscheinen. In der vollendeten Tragödie
bewundern wir den Sieg des Dichters über seine
Geschöpfe und ihre Erlebnisse; man genießt
letzten Endes die freudige Überlegenheit durch
Form. In der griechischen Tragödie, dieser
wundervollen Adoration der Götter, bestätigt
man das vernichtende Geschick; doch zwischen
aller Zerstörung verharrt unverletzt die Form,
unser Menschlichstes und Stärkstes.
Bei Chirico mag man „die Hölle der Ver-
lassenheit" spüren, ein erkältendes Alleinsein
in starren Träumen. Etwa ein Stück visionären
Racine's oder alchemistischen Aifieri's. Diese
Träume reichen zu keinen Knien von Göttern,
kaum zu Kollektivem; wiewohl diese leeren
Plätze, worüber der Schatten eines Kindes eilt,
oft den Schlafenden erscheinen. Dies mag es
sein: früher besassen Träume allgemeine aner-
kannte Bedeutung. Sie waren in die geistigen
Bezirke der Alten eingeordnet; jetzt sind sie
die Erlebnisse einer bodenlosen, wirren Ver-
lassenheit. Im Einsturz der Antike und ihrer
weitströmenden Überlieferung wurde Vieles und
gerade die visionären und ekstatischen Kräfte
sinnlos. Diese hingen als Rudimente verscholle-
ner Bezirke und Deutungen sinnlos in ver-
gessenen Schränken. Vielleicht berühren wir
hier das Tragische der Bilder Chiricos und
gleichzeitig ihre Zukunft. Ihr Tragisches ruht
vielleicht darin, daß die früher kollektiv bedeut-
samen Kräfte nun gänzlich subjektiv und will-
kürlich erscheinen, und man jetzt in dem früher
Kollektivsten und Bindenden einsam dämmert
und als Willkürlicher mißverstanden wird.
Das Erwachen archaischer Unterschichten
macht die klassizistische Tektonik begreiflich
und menschlich etwa notwendig. Ein Römer,
der träumt, schaut Geschichte, ähnlich wie ein
römischer Führer sein Unternehmen archaisch
fügt (siehe Mussolini). Noch sind diese Italiener
selbst im Elementaren die Schauspieler ihrer
Geschichte, die allzu lange tot war, und selbst
ihre Grundkräfte erscheinen irgendwie entliehen
In Chirico wird ein Stück italienischen Mittel-
alters lebendig, eine Renaissance der alten Schich-
ten leuchtet auf.
Dies ist bei Chirico eigentümlich. Diese Schau
von jetzt recht subjektiven Dingen und gleich-
zeitig ein archaisierender Atavismus. Tekto-
nische Revenants, Träume, die zuletzt ins Ver-
gangene müde zurücksinken.............