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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 61.1927-1928

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Roessler, Arthur: Gibt es noch deutsche Kunst?
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https://doi.org/10.11588/diglit.9249#0294

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GIBT ES NOCH DEUTSCHE KUNST?

VON ARTHUR ROESSLER

Das neunzehnte Jahrhundert war, wie der
Geschichtsforscher weiß, unstreitig eines
der merkwürdigsten. Als es begann, da fuhr man
in der Postkutsche über Land, ließ man sich zu
Besorgungen und Besuchen in weich wiegenden
Sänften durch die stillen Gassen der Städte tra-
gen. Als es endete, überflog man bereits die
Weltmeere von Kontinent zu Kontinent. Raum
und Zeit sind von der Technik noch nicht ganz
überwunden, aber schon ist beiden viel von
ihrer schauerlichen Größe genommen. Monats-
fernen sind durch dieTechnik zu Stundenstrecken
zusammengeschrumpft und in der Stunde selbst
geschieht das unzählbar Vielfache von zuvor. Im
Vergleich zum alltäglichen Weltreiseverkehr der
Neuzeit nimmt die geschichtliche Völkerwande-
rung sich wie ein niedlicher Maskenzug aus. Und
während wir, die in das zwanzigste Jahthundert
hereinlebenden Erben des neunzehnten, califor-
nische Crapfruits und ostindische Bananen ver-
zehren, schaukelt derJavane sich in einem Stuhl
aus gebogenem Holz, der in einer Wiener Werk-
statt gemacht wurde; um durch ein Beispiel
bloß, den internationalen Güteraustausch sinn-
fällig darzutun. Was also ist damit gemeint,
wenn immer wieder mit Betonung von deutscher
Kunst in Wort und Schrift die Rede ist? Gibt
es überhaupt noch eine deutsche Kunst? Sind
die Sprachgrenzen nationaler Kunst nicht längst
schon schwankend, verwischt, ja demVerschwin-
den nahe und ein internationales Kunst-Es-
peranto in der Entstehung, das man in allen so-
genannten Kulturländern gleichmäßig anzuwen-
den beflissen ist? Überall auf der Erde gibt
es Maler, die französisch, überall auf der Erde
gibt es Maler, die englisch und überall auch
solche, die deutsch malen. Die Kunstvereins-
ausstellungen, auch der bedeutungslosesten
Provinzstädte noch, machen diese Tatsachen
augenscheinlich; denn sie allesamt sind in einem
gewissen Sinn international, wenn auch nicht
im gleichen Grade, und verfallen dadurch dem
Schicksal der „fashionablen" Kurorte in aller
Welt: der Entäußerung ihres erdgeborenen,
bodenwüchsigen, eigentlichen Charakters. Be-
sitzen wir Deutsche, deren Aufgeschlossenheit
und Empfänglichkeit für Welteinflüsse sprich-
wörtlich ist, demnach immer noch eine uns allein
eigentümliche, also echte und rechte deutsche
Kunst? Oder bezeichnen wir mit diesem Aus-
druck nur einen ungewissen Gefühlsbegriff?

Voll Bangen mag mancher Deutsche sich diese
Frage stellen, aber beglückt aufatmend darf er

sich sie dahin beantworten, daß er, gleichwie
ein deutsches Vaterland, eine deutsche Heimat
mit deutscher Landschaft und deutschen Men-
schen darin, doch auch noch eine deutsche Kunst
besitzt, — und hoffentlich dauernd besitzen wird.

Die Elemente der Kunst waren, sind und
werden immer die gleichen sein. Wenn ihre
Werke dennoch voneinander oft grundverschie-
den erscheinen, und zwar nicht nur nach Völkern
unterschiedlich, sondern auch nach Zeiten inner-
halb eines Volkes, so hat dieser auffällige Um-
stand seine Ursache in der wesenhaft unlöslichen
Verwachsenheit der Kunst mit dem Leben, dem
sozialen Zustand, dem Grad und Umfang der
geistigen und seelischen Entwicklung und all-
gemeinen Gesittung eines Volkes; hauptsächlich
aber in dem erbmäßigen Gemeinbesitz des
Volkes an eingeborenen Wesenseigentümlich-
keiten und Fähigkeiten. Bei jedem Volk kann,
aus Gründen mannigfachster Art, zeitweilig
ebenso wie Entfaltung auch Verkümmerung
der spezifisch künstlerischen Fähigkeiten eintre-
ten; kommt es jedoch zur Ausbildung der be-
sonderen Naturanlagen, dann wird, um ein nahe-
liegendes Beispiel anzuführen, die Kunst bei
den Romanen stets die Tendenz der Entwick-
lung nach derSeite formaler Schönheit aufweisen,
bei den Deutschen hingegen nach der Seite des
Charakteristischen. Vergleichendes Studium des
Wesens und Werkes der in Betracht kommenden
repräsentativen Meister wird die Bestätigung
dieser Behauptung zum Ergebnis haben.

Denn im Künstlerindividuum steigern sich die
besonderen völkischen Eigenschaften zu Tugen-
den, in seiner Leistung verdichtet sich die Sehn-
sucht seines, vom gleichen Kulturverlangen
zusammengehaltenen Volkes zum sinnfälligen
Werk. Je inniger daher ein Künstler sich seinem
Volke zugehörig fühlt, desto stärker und ein-
dringlich nachhaltiger wirkt die Kraft seiner
Leistung auf die Volksgemeinschaft. Anschau-
ungs-, Ausdrucks- und sonstige ästhetische Pro-
bleme können demnach nur dann zu bestimmen-
den Gedanken für die Kunst eines Volkes wer-
den, wenn sie die leitenden Gedanken eben
dieses Volkes während eines gewissen Zeitver-
laufes und seiner Zuständlichkeiten sind. Die
Deutschen haben nun seit etwa hundert Jahren
kein völkisch ideengroßes Problem, daher auch
keine synthetische Kunst. Sie haben wohl
ungemein viele Ideen, technische, politische,
soziale, philosophische, religiöse, poetische und
geschichtliche, aber keine mythischen. Ihre
 
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