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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 61.1927-1928

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Michel, Wilhelm: Kulturelle Dezentralisation
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https://doi.org/10.11588/diglit.9249#0350

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KULTURELLE DEZENTRALISATION

VON WILHELM MICHEL

Die vielbeklagte staalliche Zerrissenheit
Deutschlands hat gleichwohl ein Gutes zur
Folge gehabt: die Dezentralisation der deut-
schen Kultur-Arbeit. Kaum einer der größeren
deutschen Höfe fehlt in der Reihe jener Mittel-
punkte, von denen geistige und künstlerische
Befruchtung ins Land ging. Und manche kleine
und kleinste Residenz nimmt neben ihnen in
dieser Reihe einen hochgeachteten Rang ein.
Nicht nur die Geschichte der Hochschulen, der
Akademien und der Theater ist vielfach mit den
deutschen Fürstenhäusern verknüpft: es zeigte
sich sehr oft bei ihnen ein guter Blick für die
bedeutende Einzelpersönlichkeit. Späterhin ha-
ben die Staaten und die Städte diese Kultur-
pflege der Dynastien übernommen. Sie haben
die Dezentralisation der geistigen Arbeit in das
Reich von 18 71 und in das neue Deutschland von
1919 herübergerettet, und heute noch genießen
wir ihre Früchte. Der kulturellen Verarmung
der „Provinz", die sich in so vielen anderen
Ländern als eine Folge der modernen Zentrali-
sierungstendenz ergeben hat, hat sie erfolgreich
entgegengewirkt. Immer noch kann in Deutsch-
land ein geistiger Mensch in der „Provinz" woh-
nen und gedeihen. Immer noch trifft in deut-
schen Landeshauptstädten der Appell an ihre
kulturellen Verpflichtungen auf einen leben-
digen Nerv. Und je bestimmter dem deutschen
Volke ein immer engerer politischer Zusam-
menschluß in Aussicht steht — auf den schon
wirtschaftliche und grundlegend nationalpoli-
tische Rücksichten unnachsichtlich hindrängen
— desto unzweideutiger ergibt sich die Not-
wendigkeit, eine Art kultureller Autonomie der
Landesteile beizubehalten. Wir haben kein deut-
sches Nationaltheater, das ein Haus wäre an
einem bestimmten Platz und dessen Leistungen
das dramatische Können Deutschlands maß-
gebend und vollständig darstellt. Aber wir ha-
ben statt dessen etwas viel Besseres und Le-
bendigeres: wir haben in einer überwältigend
großen Anzahl deutscher Bühnen den Ehrgeiz,
Leistungen zu vollbringen, die mit höchsten ge-
meindeutschen Maßstäben gemessen werden
können. Wir haben das Große, daß der Geist
des deutschen Nationaltheaters an allen größe-
ren Bühnen unseres Vaterlandes lebendig ist;
daß jede sich müht, wenigstens in einigen ihrer
Darbietungen den höchsten Ansprüchen zu ge-
nügen und damit eine vollwertige Beisteuer zum
Ganzen der Nationalkultur zu liefern. Nicht auf
einem Hügel, nicht in einer bestimmten Stadt

steht das Bühnenhaus, in dem das Drama, die
Szene, die Schauspielkunst Deutschlands sinn-
fällig beheimatet ist. Aber überall, wo an einer
Bühne etwas Bedeutendes geleistet wird, sei
es in Hamburg oder in Dresden, in München,
in Hannover, in Düsseldorf, Köln, Darmstadt
oder Königsberg — überall da ist „deutsches
Nationaltheater"; überall da ist im Augenblick
der Leistung nicht Provinz, sondern Mittel-
punkt und Metropole, so gut wie in Berlin.

Wie steht es nun mit der Dezentralisation in
Dingen der bildenden Kunst? Die Frage
liegt hier schwieriger als beim Theater und bei
den Universitäten. So gewiß es erreicht ist,
daß jede unserer größeren Bühnen ein Stück
deutsches Nationaltheater darstellt, so wenig
ist zu übersehen, daß das gleiche schöne Ziel
hinsichtlich der Kunstpflege nicht so leicht zu
gewinnen ist. Die Kunstpflege scheidet sich in
Pflege der künstlerischen Produktion und in
Pflege der Ausstellungstätigkeit. Da fällt
zunächst ins Auge, daß die besonderen Lebens-
bedingungen der künstlerischen Produktion den
schaffenden Künstler offensichtlich in die großen
Zentren, in die Kunstmetropolen drängen. Der
schaffende Künstler braucht dengrößten Markt,
die größte Publizität; er braucht aber auch
die Anlehnung an eine große Lehranstalt, er
braucht die Studienmittel der Sammlungen und
Museen, der Zeichenkurse und eines bewegten
Lebens; vor allem braucht er auch, wenigstens
einige Zeit lang, die enge Fühlung mit den
Kollegen, die Erhitzung der Diskussionen, die
Kritik, die Gesellschaft von Gleichstrebenden.
Alle diese Umstände und Bedürfnisse verweisen
ihn auf die große Stadt. Und deshalb steht die
Dezentralisation der Kunstpflege, soweit sie die
schaffende Kunst betrifft, unter wenig günstigen
Umständen. Jede Stadt, jeder Staat wird natür-
lich seine lokalen Begabungen nach Kräften zu
fördern suchen; aber immer wieder werden
ihnen Talente durch Abwanderung in die Metro-
polen entzogen werden.

Günstiger ist es um die ausstellerische
Tätigkeit der Provinz bestellt. — Und gerade
auf sie kommt es mir hier an. Die ausstelle-
rische Tätigkeit ist nämlich nicht durchaus an
die lokale Produktion gebunden. Sie kann wert-
schaffend wirksam werden für das Ganze der
nationalen Kultur, sie kann genau wie das Pro-
vinz-Theater kulturell „reichsunmittelbar" sein
und nach höchsten Maßstäben arbeiten — vor-
ausgesetzt, daß sie sich richtig einzustellen weiß.
 
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