Die Verkündigung - Uffiziengalerie -
Florenz
Tisch aus der „Verkündigung“ -
Uffiziengalerie - Florenz
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Zeichnung für den Engel der „Ver-
kündigung“ - Christ Church Library
Oxford
In dem Reichtum der Ideen und Konzeptionen, die Leonardo aus sich herausströmen lässt,
sodass alle, die sich ihm näherten, jeder für sich glauben konnte, ihn verschieden entdeckt zu
haben, ist der einzige Punkt, dem alle zustimmen, die Genauigkeit der Methode bei dem
Suchen nach Wahrheit. Jedes Problem ist in seinen wesentlichen Punkten gekennzeichnet, und die
Definitionen, die Ergebnisse sind gänzlich wahr; nicht immer sind seine Erörterungen oder die
Teile seiner Erörterungen gleich präzis und ohne Fehler. Er wurde schon von den Positivisten als
ihr ruhmreicher Vorgänger betrachtet. In neuerer Zeit wollte man in ihm einen Denker von derartiger
idealistischer Überzeugung erkennen, dass man ihn als einen Vorgänger des kritischen Denkens Kants
sah, der fähig ist, die Elemente für den Entwurf eines Systems zu geben, welches scheinbar den Ein-
klang zwischen Plato und Kant, den Stoikern und Spinoza, der Bibel und Schopenhauer erlaubt.
Bestimmte Stellen, die scheinbar im Widerspruch stehen, wollten die Nachfolger so deuten, wie
sich Bemerkungen Leonardos für später erdachte Systeme eignen würden. Allen ist aber entgangen,
dass in Leonardo wie in allen Denkern des Cinquecento die Naturwissenschaften, die Kunst, die
Philologie, die Archäologie aus einer Angleichung des Geistes an das Leben entstammen, natürli-
cherweise im Sinne einer Universalität empfunden, die sie mit der Realität der Natur ver-
banden. Der Geist herrschte vor und einte alle Phänomene des Lebens und der Geschichte. So
konnte Leonardo in den Kunstformen die Unruhe einer höchsten Religiosität mit der philoso-
phischen Spekulation vereinen. Die Methoden der Forschung und das Beobachtungsvermögen
wurden in Ausdrücke einer absoluten stilistischen Reinheit umgesetzt. Der wesentliche ästhe-
tische Grundsatz der Renaissance, verständlich in seinem einfachen Wortschatz, der aber gänzlich
ungenau wird, wenn er sich auf abstrakte Ideen bezieht, war der, dass die Kunst, wie Vasari
anführt, die Nachahmerin der Natur sein sollte... Man könnte hinzufügen (bei jedem Schriftsteller
des Cinquecento, welcher den wirklichen Wert eines künstlerischen Werkes ausdrücken will, kommen
so oft Bekenntnisse vor, die sich auf Lebenseindrücke beziehen), dass die Natur als Bewahrerin
jener religiösen Grösse berufen ist, die dem Geist zu wirken und der Hand den Befehlen der
künstlerischen Schöpfung zu folgen erlaubt.
Gehorsam jenem Prinzip, welches schon in dem „Trattato della Pittura“ des Leon Battista
Alberti verkommt, nach welchem vom Maler die Universalität gefordert wurde, sodass er nicht nur
den Menschen, sondern auch die Dinge, die Landschaft, die Farben, die Schatten, die Haltungen
der Figuren im Sinne psychologischer Erfordernisse darstellen solle, erkannte Leonardo im Vor-
gang der künstlerischen Tätigkeit die stete Ableitung von der Realität der Natur, die ihm immer
gegenwärtig war und auf die er die Aufmerksamkeit lenken wollte, damit sie beobachtet werde, viel
mehr als auf ihre glänzende, leuchtende Oberfläche auf ihr innerstes Wesen. Die Kunst, oder besser der
Künstler, muss von den gleichen Gesetzen geleitet werden, welche die Ordnung der Natur bestimmen.
Diese „zwingen den Geist des Malers, sich in den Geist der Natur zu verwandeln und sich zum Ver-
mittler zwischen der Natur und der Kunst zu machen“ (Tratt. della Pitt., fol. 36). Das Bewusstsein von
der Geistigkeit der Kunst gegenüber der Natur hat nach Leonardo hierin ihren Ursprung, von hier
findet auch sein Werk die Rechtfertigung. Wenn er, insofern es sich um künstlerisches Schaffen
handelt, zur Vereinigung zwischen Natur und Kunst und zu originaler Bestimmung architektonischer
Formen gelangt, gelangt er durch seine Tätigkeit als Forscher und Theoretiker zur Genauigkeit der
Wissenschaft und zu den Möglichkeiten des Erfinders, des Mechanikers, des Hydraulikers, selbst im
Hinblick auf die dynamische Steigerung der menschlichen Fähigkeiten wetteifernd mit der Natur.
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