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WILHELM HAUSENSTEIN
Das plastische Tun des Degas gehört der ersten Linie aller bildnerischen Schöpfung an:
aller — nicht nur der zeitgenössischen. Mit dem plastischen Genie der Jahrhunderte steht
es in einem gemeinsamen Raum. Kein Gedanke an die Antike, keiner an die Skulpturen
des Michelangelo in der Florentiner Akademie und in San Lorenzo, keiner an die Bronze-
türen des florentinischen Baptisteriums oder an Goujon, Pilon, Puget mindert denBddnereien
des Degas die Fülle und Festigkeit des Bestands. Degas selbst, der Plastiker, wird Maßstab.
Erstaunten Sinnes werde ich inne, daß Rodin, Maillol, Matisse zum Vergleich sich nicht
drängen. Was ist dies? Ein Genius des Plastischen, zeit seines Lebens schier ganz ver-
borgen, nur wenig Gästen des Ateliers vertraut, steht mit einemmal, nach Breite und
Tiefe und Höhe offenbar, vor den Augen der hinterbliebenen Welt. Zeit seines Lebens hat
dieser Genius aus sich nie Wesens gemacht. Den Ausstellungen blieb er fern; er lebte nur
in seiner Intimität; kaum machte er den Versuch, eigene Bedeutung zu begreifen; jegliche
Feierlichkeit war dem künstlerischen, dem konstruktiven Bewußtsein (wenn es, anders als
in den Bildern, überhaupt zum Zuge kam) in jedem Augenblick fremd. Der Tod kommt,
zieht ohne Lärm den Vorhang weg und hat nicht erst nötig, mit dem Finger auf das heim-
lichste Spielzeug des Toten zu weisen: da ist es — und schon wird seine Geltung Selbst-
verständlichkeit. Das Verhältnis der Kräfte erfährt eine neue Bestimmung. Rodin bleibt
Rodin; sein Wesentlichstes bleibt und wird bleiben. Doch kenntlicher als je wird an der
Bildnerei Rodins jetzt plötzlich die allzu große Beredsamkeit. Dem unrührbaren See des
Degas gegenüber fällt in gewissen Regionen Bodins die plastische Phraseologie auf; ein
Unmaß; ein Barock, das die Barocken selbst „maniera“ genannt haben würden. Im nahen
Winterthur gibt das Museum Dinge zum Messen. Nimmt dort Maillol (von Degas her ge-
sehen) nicht ab, so wächst er auch nicht; mir scheint sogar, er halte dem ungeheueren
Nachdruck des Degas nicht Stand; die plastische Substanz sei schwächer. Ja selbst die
schöne Bronze Renoirs, im nämlichen Museum gleichsam in die Mitte gestellt, mächtigen
Beckens, flämisch in den Schenkeln, scheint minder intensiv. Ich prüfe den Eindruck,
prüfe ihn wieder, diszipliniere meine Empfindung durch systematisches Mißtrauen gegen
alle Suggestion. Aber der Eindruck besteht. Ich glaube, daß die plastische Einsiedelei des
Degas (der in Bild und Zeichnung mir nicht alle Zeit der Allerliebsten, der Unentbehr-
lichsten einer ist, den ich vor mir selbst für einen Lautrec und um einen Guys schon preis-
gab) die obere Grenze des Menschenmöglichen in der Plastik noch eher erreichte als
jene anderen.
Die Ursache wäre begreiflich. Hier ist sie: Die Plastik des Degas hat nie einen Vergleich
(auch den legitimsten nicht) mit dem Öffentlichen schließen müssen. Sie ist ganz inoffiziell;
so sehr wie irgendeine Kunst es überhaupt zu sein vermag. Sie streift das Barbarische —
sie, die Plastik des überlegsamsten Zeichners. Die Plastik des Degas galt ohne anderen An-
spruch als den einer leidenschaftlichen Sachlichkeit immer nur seinen heftigen Passionen —
den Dingen, von denen der ganze Mann (sozusagen privatissime) besessen war: den Pferden
WILHELM HAUSENSTEIN
Das plastische Tun des Degas gehört der ersten Linie aller bildnerischen Schöpfung an:
aller — nicht nur der zeitgenössischen. Mit dem plastischen Genie der Jahrhunderte steht
es in einem gemeinsamen Raum. Kein Gedanke an die Antike, keiner an die Skulpturen
des Michelangelo in der Florentiner Akademie und in San Lorenzo, keiner an die Bronze-
türen des florentinischen Baptisteriums oder an Goujon, Pilon, Puget mindert denBddnereien
des Degas die Fülle und Festigkeit des Bestands. Degas selbst, der Plastiker, wird Maßstab.
Erstaunten Sinnes werde ich inne, daß Rodin, Maillol, Matisse zum Vergleich sich nicht
drängen. Was ist dies? Ein Genius des Plastischen, zeit seines Lebens schier ganz ver-
borgen, nur wenig Gästen des Ateliers vertraut, steht mit einemmal, nach Breite und
Tiefe und Höhe offenbar, vor den Augen der hinterbliebenen Welt. Zeit seines Lebens hat
dieser Genius aus sich nie Wesens gemacht. Den Ausstellungen blieb er fern; er lebte nur
in seiner Intimität; kaum machte er den Versuch, eigene Bedeutung zu begreifen; jegliche
Feierlichkeit war dem künstlerischen, dem konstruktiven Bewußtsein (wenn es, anders als
in den Bildern, überhaupt zum Zuge kam) in jedem Augenblick fremd. Der Tod kommt,
zieht ohne Lärm den Vorhang weg und hat nicht erst nötig, mit dem Finger auf das heim-
lichste Spielzeug des Toten zu weisen: da ist es — und schon wird seine Geltung Selbst-
verständlichkeit. Das Verhältnis der Kräfte erfährt eine neue Bestimmung. Rodin bleibt
Rodin; sein Wesentlichstes bleibt und wird bleiben. Doch kenntlicher als je wird an der
Bildnerei Rodins jetzt plötzlich die allzu große Beredsamkeit. Dem unrührbaren See des
Degas gegenüber fällt in gewissen Regionen Bodins die plastische Phraseologie auf; ein
Unmaß; ein Barock, das die Barocken selbst „maniera“ genannt haben würden. Im nahen
Winterthur gibt das Museum Dinge zum Messen. Nimmt dort Maillol (von Degas her ge-
sehen) nicht ab, so wächst er auch nicht; mir scheint sogar, er halte dem ungeheueren
Nachdruck des Degas nicht Stand; die plastische Substanz sei schwächer. Ja selbst die
schöne Bronze Renoirs, im nämlichen Museum gleichsam in die Mitte gestellt, mächtigen
Beckens, flämisch in den Schenkeln, scheint minder intensiv. Ich prüfe den Eindruck,
prüfe ihn wieder, diszipliniere meine Empfindung durch systematisches Mißtrauen gegen
alle Suggestion. Aber der Eindruck besteht. Ich glaube, daß die plastische Einsiedelei des
Degas (der in Bild und Zeichnung mir nicht alle Zeit der Allerliebsten, der Unentbehr-
lichsten einer ist, den ich vor mir selbst für einen Lautrec und um einen Guys schon preis-
gab) die obere Grenze des Menschenmöglichen in der Plastik noch eher erreichte als
jene anderen.
Die Ursache wäre begreiflich. Hier ist sie: Die Plastik des Degas hat nie einen Vergleich
(auch den legitimsten nicht) mit dem Öffentlichen schließen müssen. Sie ist ganz inoffiziell;
so sehr wie irgendeine Kunst es überhaupt zu sein vermag. Sie streift das Barbarische —
sie, die Plastik des überlegsamsten Zeichners. Die Plastik des Degas galt ohne anderen An-
spruch als den einer leidenschaftlichen Sachlichkeit immer nur seinen heftigen Passionen —
den Dingen, von denen der ganze Mann (sozusagen privatissime) besessen war: den Pferden