DEGAS DER PLASTIKER
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des Rennplatzes und den Heimlichkeiten der Frau. Bild und Zeichnung — wird man sagen —
haben den nämlichen Inhalt. Ja; doch mich bedünkt, die Plastik des Degas verwirkliche
erst sein Bild. In einem Aufsatz der „Renaissance de l’art francais“ (vom Juli 1921) erzählt
Guilleaume Janneau, Degas habe gesagt: „Glaubt ihr, die Augentäuschung der Zeichnung
und auch der Malerei könne mir genügen ?“ Er modelliert aus gegenständlicher Begierde.
Ich denke mir, Degas habe auch modelliert, um vorbereitend oder bestätigend die Kraft der
Pastelle zu verstärken. Er modellierte Tänzerinnen, die er im Bilde anzog, mit einer
einzigen Ausnahme nur nackt. Solche Vorarbeit und Nacharbeit könnte zur uneinge-
standenen Hauptsache geworden sein.
David hat die Männer des Ballhausschwurs, die im Bilde das Kostüm von 1789 zu tragen
hatten, im Entwurf nackt gemacht. Allein: dies Beispiel ist ein reines Gegenteil des Degas.
Das Nackte des David war antikische Rhetorik. Das Gewand war Wirklichkeit. Dem Degas
ist die Gaze der Tänzerinnen erregende Paraphrase; oder nicht doch — mehr: die Gaze
ist ihm wirklich wie je dem Polyklet die Nacktheit des Speerträgers; aber diese Nacktheit
ist vielleicht ein Gewand gewesen, hinter dem es noch etwas Wirklicheres gegeben hätte;
war etwa eine Tracht, ein Getragenes, nicht eine Bloßstellung der Realität; und ähnlich
die Nacktheit beim David; hinter ihr (gleichsam hinter der Konvention des Nackten) gab
es zum Beispiel die realere Realität der Mode von 1789; aber vom Degas ist das Nackte
nun wahrlich bloßgestellt wie kaum jemals von jemand — letzte Realität, unpolitische,
unöffentliche; Intimität der Kreatur, der privaten, der Kreatur im Zimmer, hinter dem
„Schlüsselloch0; das abendländisch Nackte, das Nackte von Paris. Das Wirklichste sucht
er, das Massivste, die letzte Ursache des Widerstandes; er will den Kern. Darum zieht er
aus; darum entblößt er höchst konkret. Ihn treibt der Fanatismus für die Materie, für ihr
Gerüst, für ihre Beweglichkeit. Es erschreckt, wie er in der Intimität des weiblichen
Körpers lebt. Keine Möglichkeit der Ausrenkung, der Pose, der Toilette, der Gleichge-
wichte, des Physiologischen, die diesem indiskretesten Sucher verborgen bliebe.
Indiskret — dies ist wohl das Wort. Das Wunder aber ist dies: daß Indiskretion, bei
diesem Menschen über allen bürgerlichen Geschmack dieses Wortes erhaben, nur
Atmosphären des Natürlichen und Sachlichen ausströmt und daß sie Diskretion zu
einer Mittelmäßigkeit der Energielosen herabsetzt. Kann man gegen Rennpferde indis-
kret sein? Nun: die Frauen im tub, die Frauen mit dem Handtuch, die Frauen, die sich
räkeln — dies alles ist Rennpferd; eine Sache zwischen Sport, Zoologie und nüchterner
Sinnlichkeit. . .
Wäre der Ehrgeiz nach einem plastischen Gesamtwerk dagewesen, so könnte die Bildnerei
des Degas leicht weniger sein. Daß sie ein Beiwerk ist, daß sie die Unmöglichkeit mensch-
lichen „Werks“ zu bekennen scheint, gerade dies macht ihre erstaunliche Wesenheit aus.
Daß Degas selber vom Standpunkt seiner Unerbittlichkeit in Dingen des künstlerischen
Vollendens seine Wachsplastiken als Paralipomena, als Vorspiele, als Nachspiele betrieb,
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des Rennplatzes und den Heimlichkeiten der Frau. Bild und Zeichnung — wird man sagen —
haben den nämlichen Inhalt. Ja; doch mich bedünkt, die Plastik des Degas verwirkliche
erst sein Bild. In einem Aufsatz der „Renaissance de l’art francais“ (vom Juli 1921) erzählt
Guilleaume Janneau, Degas habe gesagt: „Glaubt ihr, die Augentäuschung der Zeichnung
und auch der Malerei könne mir genügen ?“ Er modelliert aus gegenständlicher Begierde.
Ich denke mir, Degas habe auch modelliert, um vorbereitend oder bestätigend die Kraft der
Pastelle zu verstärken. Er modellierte Tänzerinnen, die er im Bilde anzog, mit einer
einzigen Ausnahme nur nackt. Solche Vorarbeit und Nacharbeit könnte zur uneinge-
standenen Hauptsache geworden sein.
David hat die Männer des Ballhausschwurs, die im Bilde das Kostüm von 1789 zu tragen
hatten, im Entwurf nackt gemacht. Allein: dies Beispiel ist ein reines Gegenteil des Degas.
Das Nackte des David war antikische Rhetorik. Das Gewand war Wirklichkeit. Dem Degas
ist die Gaze der Tänzerinnen erregende Paraphrase; oder nicht doch — mehr: die Gaze
ist ihm wirklich wie je dem Polyklet die Nacktheit des Speerträgers; aber diese Nacktheit
ist vielleicht ein Gewand gewesen, hinter dem es noch etwas Wirklicheres gegeben hätte;
war etwa eine Tracht, ein Getragenes, nicht eine Bloßstellung der Realität; und ähnlich
die Nacktheit beim David; hinter ihr (gleichsam hinter der Konvention des Nackten) gab
es zum Beispiel die realere Realität der Mode von 1789; aber vom Degas ist das Nackte
nun wahrlich bloßgestellt wie kaum jemals von jemand — letzte Realität, unpolitische,
unöffentliche; Intimität der Kreatur, der privaten, der Kreatur im Zimmer, hinter dem
„Schlüsselloch0; das abendländisch Nackte, das Nackte von Paris. Das Wirklichste sucht
er, das Massivste, die letzte Ursache des Widerstandes; er will den Kern. Darum zieht er
aus; darum entblößt er höchst konkret. Ihn treibt der Fanatismus für die Materie, für ihr
Gerüst, für ihre Beweglichkeit. Es erschreckt, wie er in der Intimität des weiblichen
Körpers lebt. Keine Möglichkeit der Ausrenkung, der Pose, der Toilette, der Gleichge-
wichte, des Physiologischen, die diesem indiskretesten Sucher verborgen bliebe.
Indiskret — dies ist wohl das Wort. Das Wunder aber ist dies: daß Indiskretion, bei
diesem Menschen über allen bürgerlichen Geschmack dieses Wortes erhaben, nur
Atmosphären des Natürlichen und Sachlichen ausströmt und daß sie Diskretion zu
einer Mittelmäßigkeit der Energielosen herabsetzt. Kann man gegen Rennpferde indis-
kret sein? Nun: die Frauen im tub, die Frauen mit dem Handtuch, die Frauen, die sich
räkeln — dies alles ist Rennpferd; eine Sache zwischen Sport, Zoologie und nüchterner
Sinnlichkeit. . .
Wäre der Ehrgeiz nach einem plastischen Gesamtwerk dagewesen, so könnte die Bildnerei
des Degas leicht weniger sein. Daß sie ein Beiwerk ist, daß sie die Unmöglichkeit mensch-
lichen „Werks“ zu bekennen scheint, gerade dies macht ihre erstaunliche Wesenheit aus.
Daß Degas selber vom Standpunkt seiner Unerbittlichkeit in Dingen des künstlerischen
Vollendens seine Wachsplastiken als Paralipomena, als Vorspiele, als Nachspiele betrieb,