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Harth, Dietrich [Hrsg.]
Finale!: das kleine Buch vom Weltuntergang — München, 1999

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https://doi.org/10.11588/diglit.2939#0011

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Rituale haben dieses Muster wunderbar ausgestaltet. Und je
nach Art ihrer Bildung sind diese Gebilde Teil einer Überliefe-
rung geworden, hinter deren poetischem Schleier die stumpf-
sinnige Ein- und Ausschaltlogik von Anfang und Ende ihre
mechanische Geltung einbüßen kann. Alle Weltreligionen er-
zählen in mehr oder weniger ausgemalten Versionen vom Un-
tergang als einem Übergang in ein anderes, ein neues, unter
bestimmten Bedingungen sogar besseres Leben. Nicht selten
erscheint dann auf den bunten Bühnen der Mythenerzähler,
Propheten und Visionäre das Weltende in Gestalt über-
menschlicher, mit Wasser oder Feuer oder abwechselnd mit
beiden hantierender Reinigungsgiganten. Im Text wird auf
diese Weise wiederholt und ins Rhapsodisch-Monströse ver-
größert, was im lokalen Bestattungsritual des Clans gang und
gäbe. Das Weltende, das jeden erwartet, wird im Ritus der
Totenfeier wieder verkleinert und so für den Alltag gezähmt.
Vielleicht, so erzählt es ein doppeldeutiger, Tod und Leben
verwechselnder Traum, ist die Welt nach dem Großreinema-
chen so klar und durchsichtig wie der Kristall.

Schöner, weil kriminalistisch ergiebiger, ist der allegorische
Mummenschanz bestimmter religionspolitischer Untergangs-
botschaften. Die „Apokalypse" des legendären Johannes war
ebenso einst ein Widerstandstext wie die Weltreiche- und Dra-
chen-Vision Daniels aus der Zeit der Hasmonäer. Was die
Texte offenbaren, beruht nicht zum geringsten auf jener
Schwarz-Weiß-Malerei, die archaische Wildheit mit den Mit-
teln der Schriftkultur besiegt. Wütenden Untieren, geifernden
Monstren gleich treten die erdverhafteten analphabetischen
Mächte an zum letzten Gefecht mit dem Himmel, dessen ver-
nichtendes Feuer eine Medienrevolution vorbereitet. Denn der
neue, aus dem Feuer geborene Mensch apportiert das Buch als
Symbol einer anderen, einer die Welt entziffernden und dusle-
genden Macht. Die jüngste Generation der Millenaristen hat
das Buchmedium schon wieder verlassen und ist in den Cyber-
space eingetaucht (siehe S. 217).

An allen Phantasien vom Weltende - wie grausig auch im-
mer es in ihnen zugeht - haftet ein gewisser moralisch-pathe-
tischer Hautgout. Der kann erst vergehn, wenn die Tradition,
die auf den festen Buchstab und auslegenden Geist baut, ein
 
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