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https://doi.org/10.11588/diglit.2939#0176
Carlos Fuentes
Ausrottung durch Vergangenheit
Du weißt nicht, ob du bei Tage schläfst und bei Nacht durch
das Appartement wanderst, die Gegenstände berührst, ihnen
ausweichst. Es gibt keine Zeit. Nichts funktioniert. Das elek-
trische Licht wird jeden Tag gelblicher. 31. Dezember 1999.
Heute nacht gehen die Lichter aus. Du erwartest, daß sie wie-
der aufleuchten, und du weißt, daß es vergeblich ist. Du hast
die Spiegel besiegt. Sie werden nur Finsternis spiegeln. Du
wirst die Vorhänge nicht einziehen. Du kennst den Platz jedes
Gegenstandes auswendig. Du brauchst die Kerzenstümpfe, die
du in einem Kasten neben deinem Bett verwahrst, nicht aufzu-
brauchen. Und du hast nur noch eine Schachtel Streichhölzer.
Du läßt die Pantoffeln von den Füßen rutschen. Du wickelst
dich in den tunesischen Kaftan, den schwarzen, mit Goldfäden
gesäumt. Du nimmst die Manuskripte zur Hand, die du in den
Flaschen gefunden hast. Du wiederholst mit leiser Stimme das
Geschriebene. Du kennst es auswendig. Aber du tust so, als ob
du normal liest, du faltest jedes Blatt zusammen, nachdem du
seine Worte geflüstert hast. Du siehst nichts. Draußen schneit
es. Eine Prozession marschiert unter deinen Fenstern vorbei.
Du stellst sie dir vor: zerrissene Standarten, Büßergeißeln und
Sensen. Es müssen die letzten sein. Du lächelst. Vielleicht bist
du der letzte. Was werden sie mit dir machen? Und plötzlich,
während du dir diese Frage vorlegst, stellst du die Verbindung
her zwischen deiner Lage und deiner Lektüre in der Dunkel-
heit, dir wird das Selbstverständliche klar, du bringst die
Bilder, die du zum letzten Mal von deinem Fenster aus sahst,
bevor du die Vorhänge zuzogst, in Verbindung mit den toten
Buchstaben der Blätter, die du in der Hand hältst, mit diesen
uralten Geschichten aus Rom und Alexandrien, der dalma-
tischen Küste und der kantabrischen Küste, Palästina und
Spanien, Venedig, dem Theater der Erinnerung von Donna
Valerio Camillo, den drei Jünglingen mit dem Kreuz auf dem
Rücken, dem Fluch von Cäsar Tiberius, der Einsamkeit des
Königs Don Felipe in seiner kastilischen Totenstadt, dem eine
Chance geben, was sie nie hatte, um sich zu seiner Zeit zu
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Ausrottung durch Vergangenheit
Du weißt nicht, ob du bei Tage schläfst und bei Nacht durch
das Appartement wanderst, die Gegenstände berührst, ihnen
ausweichst. Es gibt keine Zeit. Nichts funktioniert. Das elek-
trische Licht wird jeden Tag gelblicher. 31. Dezember 1999.
Heute nacht gehen die Lichter aus. Du erwartest, daß sie wie-
der aufleuchten, und du weißt, daß es vergeblich ist. Du hast
die Spiegel besiegt. Sie werden nur Finsternis spiegeln. Du
wirst die Vorhänge nicht einziehen. Du kennst den Platz jedes
Gegenstandes auswendig. Du brauchst die Kerzenstümpfe, die
du in einem Kasten neben deinem Bett verwahrst, nicht aufzu-
brauchen. Und du hast nur noch eine Schachtel Streichhölzer.
Du läßt die Pantoffeln von den Füßen rutschen. Du wickelst
dich in den tunesischen Kaftan, den schwarzen, mit Goldfäden
gesäumt. Du nimmst die Manuskripte zur Hand, die du in den
Flaschen gefunden hast. Du wiederholst mit leiser Stimme das
Geschriebene. Du kennst es auswendig. Aber du tust so, als ob
du normal liest, du faltest jedes Blatt zusammen, nachdem du
seine Worte geflüstert hast. Du siehst nichts. Draußen schneit
es. Eine Prozession marschiert unter deinen Fenstern vorbei.
Du stellst sie dir vor: zerrissene Standarten, Büßergeißeln und
Sensen. Es müssen die letzten sein. Du lächelst. Vielleicht bist
du der letzte. Was werden sie mit dir machen? Und plötzlich,
während du dir diese Frage vorlegst, stellst du die Verbindung
her zwischen deiner Lage und deiner Lektüre in der Dunkel-
heit, dir wird das Selbstverständliche klar, du bringst die
Bilder, die du zum letzten Mal von deinem Fenster aus sahst,
bevor du die Vorhänge zuzogst, in Verbindung mit den toten
Buchstaben der Blätter, die du in der Hand hältst, mit diesen
uralten Geschichten aus Rom und Alexandrien, der dalma-
tischen Küste und der kantabrischen Küste, Palästina und
Spanien, Venedig, dem Theater der Erinnerung von Donna
Valerio Camillo, den drei Jünglingen mit dem Kreuz auf dem
Rücken, dem Fluch von Cäsar Tiberius, der Einsamkeit des
Königs Don Felipe in seiner kastilischen Totenstadt, dem eine
Chance geben, was sie nie hatte, um sich zu seiner Zeit zu
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