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Harth, Dietrich [Hrsg.]
Finale!: das kleine Buch vom Weltuntergang — München, 1999

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https://doi.org/10.11588/diglit.2939#0167

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Karl Jaspers
Selbstausrottung

Im physischen Kampf der Gewalt gegen Wagnis und Opfer des
Lebens. Kein Mensch ist ohne Opfer. In der Situation heute ist
die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten: Entweder wird das
Dasein der Menschheit überhaupt zum Opfer, ohne daß die
überwältigende Mehrzahl der Menschen dies will. Durch das
Wagnis ihrer Minderheit vollzieht sich das Selbstopfer des
Menschendaseins überhaupt. Ihm ist ein Ende gesetzt, weil der
Mensch nicht frei sein kann. Oder die Menschheit opfert ihre
Gewalt als Mittel zur Durchsetzung ihrer Zwecke im Kampf
untereinander, das heißt aber: das Menschsein selber wandelt
sich, nicht als vererbbare biologische Konstitution, sondern als
geschichtliche Erscheinung, in ständiger gefährlicher Schwebe
seines bedrohten Wesens.

Man kann fragen: Muß es dem Menschen möglich sein, alles
zu wagen, auch das Dasein der Menschheit, damit angesichts
dieser Möglichkeit der Ernst entsteht, ohne den die von jeher
geforderte Verwandlung des Menschen nicht vollzogen wird?
Soll der Blick auf die Möglichkeit dieses totalen Wagnisses und
die Bereitschaft zu ihm der Ursprung eines neuen Menschen
werden?

Oder soll, wenn diese Umkehr nicht stattfindet, der Unter-
gang aller sein? Soll die Menschheit, wenn sie nicht den Weg
findet, auf dem die sittlich-politische Gemeinschaft die Wirk-
lichkeit wachsender Gerechtigkeit ist, zugrunde gehen? Wenn
aber dieser Weg nicht gefunden wird, liegt dann die Substanz
des Menschseins dort, wo das Scheitern kein Einwand mehr ist,
wo vielmehr die letzte Wirklichkeit und Wahrheit des dem
Menschen aufgegebenen Ernstes sein Untergang ist?

Die Frage ist möglich, aber niemand kann die Antwort geben.
Nur mythische Antworten aus geschichtlicher Urzeit liegen vor.
Gott sandte die Sintflut. Als die sittliche Verwahrlosung der
Menschen zu groß wurde, faßte er den Beschluß, die Menschen
untergehen zu lassen; denn sie waren des Lebens nicht mehr wür-
dig. Schon einmal war die Sintflut da, aber auch die Rettung
Noahs. Und am Ende versprach Gott, sie nie zu wiederholen.

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