Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Harth, Dietrich [Hrsg.]
Finale!: das kleine Buch vom Weltuntergang — München, 1999

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.2939#0177

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
verwirklichen, unsere Zeit vollkommen mit einer anderen zur
Deckung bringen, die unerfüllt blieb, mehrere Leben sind
nötig, um eine Persönlichkeit zu formen: haben Presse und
Fernsehen das nicht bis zum Überdruß wiederholt? Jede Mi-
nute stirbt ein Mensch in Saint-Sulpice, jede Minute wird ein
Kind geboren, es werden nur Knaben geboren, Frauen sterben
weder, noch werden sie geboren, die Frauen sind nur die
Vermittlerinnen der Geburt, also wurden sie geschwängert von
den gleichen Männern, die hernach zur Ausrottung geführt
wurden, jeder Knabe wurde mit einem Kreuz auf dem Rücken
und sechs Zehen an jedem Fuß geboren: Niemand konnte sich
diese seltsame genetische Mutation erklären, du verstandest,
du glaubtest verstanden zu haben, der Sieg gehört weder dem
Leben noch dem Tod, sie waren nicht die gegensätzlichen
Kräfte, während der großen Epidemien und später, während
der Ausrottung ohne Unterschied, waren nach und nach alle
gegenwärtigen Einwohner von Paris, die während dieses Jahr-
hunderts Geborenen, gestorben, mit Ausnahme der Hundert-
jährigen: die anderen, die Schwangeren, die geschwängert
werden, die geboren werden, die weiter sterben, sind We-
sen aus einer anderen Zeit, der Kampf fand statt zwischen
Vergangenheit und Gegenwart, nicht zwischen Leben und
Tod: Paris ist bevölkert von lauter Schemen, aber wie, wie,
wie?

Fieberhaft rennst du ans Fenster und reißt die dicken Vor-
hänge beiseite. Die wunden Füße schleppen sich über den
Schnee. Du hörst eine Flöte. Zwei Augen sehen von der Straße
zu dir herauf. Zwei grüne, vorstehende Augen sehen dich von
der Straße an, locken dich. Du kannst den Ursprung und das
Ziel der Schritte auf der Straße unterscheiden. Jeden Tag waren
es weniger. Früher gingen die Prozessionen nach Saint-Ger-
main. Diese marschiert nach Saint-Sulpice. Die letzten. Dann
hast du dich geirrt. Der Tod hat gesiegt: Viele wurden geboren,
aber mehr sind gestorben. Endlich sind mehr gestorben, als ge-
boren wurden. Vielleicht bleiben nur diese letzten Opfer übrig,
die jetzt durch den Schnee gehen, auf Saint-Sulpice zu. Was
werden die Henker tun, wenn ihre Aufgabe beendet ist? Wer-
den sie sich selbst umbringen? Wer sind die Henker ihrer
selbst? Dieser Flötenspieler, der zu deinem Fenster hinaufsieht;
 
Annotationen