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Harth, Dietrich [Hrsg.]
Finale!: das kleine Buch vom Weltuntergang — München, 1999

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https://doi.org/10.11588/diglit.2939#0181

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Spanisch-Amerikas. Du strafst dich selbst mit einer Gebärde
innerer Verachtung. Könnte nicht ein Indonesier, ein Burmese,
ein Mauretanier, ein Palästinenser, ein Ire, ein Perser das glei-
che sagen? Idiot: Du hast gedacht wie ein Enzyklopädist mit
Puderperücke. Wie kann man Perser sein? Wie kann man
überhaupt Mexikaner, Chilene, Argentinier, Peruaner sein?

Und du? Was wird man mit dir tun? Es ist der erste Tag -
plötzlich wird es dir klar — an dem man dir nicht die einzige
Mahlzeit gebracht hat. Man wird dich Hungers sterben lassen.
Vielleicht weiß man gar nicht, daß du noch da bist, in der Suite
des Hotel du Pont Royal. Die Logik der Ausrottung setzt sich
durch, unabhängig von deiner Existenz. Zweifellos hat man
deinen Bediensteten umgebracht. Würde es dir irgend etwas
nützen, die Dinge zu beschleunigen, auf die Straße hinunterzu-
gehen, dich zu den drei Gestalten zu stellen, die zu deinem
Fenster hinaufschauen? Egal. Wer immer die wahren Henker
sein mögen, diese, andere, sie werden dich töten, obwohl sie
dich nicht kennen, denn niemand wird dir zu essen bringen.
Du mußt schlafen und deinen Tod im Schlaf kennenlernen.
Du fragst dich, ob du der einzige bist, der so zugrunde geht:
Wie die alten Katharer lächelst du. Und in diesem Augenblick
hörst du auf, zu glauben, daß du du bist: Dies passiert jemand
anderem. Nicht irgend jemand anderem, einem anderen. Dem
anderen.

Schwindel packt dich. Du möchtest in diesem Augenblick
schreien, wie Paulus den Korinthern zuschrie:

- Ich rede wie ein Tor, denn ich bin es mehr als ihr alle!
Du kehrst zu dir zurück. Du kehrst zurück in deinen elenden
Körper, dein Blut, deine Eingeweide, Sinne, den Arm aus Luft,
den verstümmelten: Mit dem heilen Arm klammerst du dich an
dich selbst wie an deinen einzigen Rettungsanker. Du bist du.
Du befindest dich in Paris, am 31. Dezember 1999. Du hast ei-
nen langen Tag vor dem Denkmal von Jacques Monod, in der
Nähe von Rodins Denkmal von Balzac, auf dem Boulevard
Raspail, verbracht. Zufall, durch seine Unveränderlichkeit fest-
gehalten, wandelt sich zu Notwendigkeit. Aber allein der Zu-
fall, und nur der Zufall, ist die Quelle jeder Erneuerung, jeder
Schöpfung. Der reine Zufall, absolute, aber blinde Freiheit, ist
die Wurzel des wundersamen Gebäudes der Evolution. Ohne

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