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Harth, Dietrich [Hrsg.]
Finale!: das kleine Buch vom Weltuntergang — München, 1999

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https://doi.org/10.11588/diglit.2939#0190

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HIMMEL, auf einem Baumast sitzt ein Vogel, das Laub ver-
birgt seine Identität, es kann ein Geier sein oder ein Pfau oder
ein Geier mit Pfauenkopf, Blick und Schnabel gegen eine Frau
gerichtet, von der die rechte Bildhälfte beherrscht wird, ihr
Kopf teilt den Gebirgszug, das Gesicht ist sanft, sehr jung, die
Nase überlang, mit einer Schwellung an der Wurzel, vielleicht
von einem Faustschlag, der Blick auf den Boden gerichtet, als
ob er ein Bild nicht vergessen kann und oder ein andres nicht
sehen will, das Haar lang und strähnig, blond oder weißgrau,
das harte Licht macht keinen Unterschied, die Kleidung ein
löchriger Fellmantel, geschnitten für breitere Schultern, über
einem fadenscheinig dünnen Hemd, wahrscheinlich aus Lei-
nen, aus dem an einer Stelle ausgefransten zu weiten rechten
Ärmel hebt ein gebrechlicher Unterarm eine Hand auf die Hö-
he des Herzens bzw. der linken Brust, eine Geste der Abwehr
oder aus der Sprache der Taubstummen, die Abwehr gilt einem
bekannten Schrecken, der Schlag Stoß Stich ist geschehn, der
Schuß gefallen, die Wunde blutet nicht mehr, die Wiederho-
lung trifft ins Leere, wo die Furcht keinen Platz hat, das Ge-
sicht der Frau wird lesbar, wenn die zweite Annahme stimmt,
ein Rattengesicht, ein Engel der Nagetiere, die Kiefer mahlen
Wortleichen und Sprachmüll, der linke Mantelärmel hängt in
Fetzen wie nach einem Unfall oder Überfall von etwas Rei-
ßendem, Tier oder Maschine, merkwürdig, daß der Arm nicht
verletzt worden ist, oder sind die braunen Flecken auf dem
Ärmel geronnenes Blut, gilt die Geste der langfingrigen rech-
ten Hand einem Schmerz in der linken Schulter, hängt der
Arm so schlaff im Ärmel, weil er gebrochen ist, oder durch
eine Fleischwunde gelähmt, der Arm ist am Handansatz vom
Bildrand abgeschnitten, die Hand kann eine Klaue sein, ein
(vielleicht blutverkrusteter) Stumpf oder ein Haken, die Frau
steht bis über die Knie im Nichts, amputiert vom Bildrand,
oder wächst sie aus dem Boden wie der Mann aus dem Haus
tritt und verschwindet darin wie der Mann im Haus, bis
die eine unaufhörliche Bewegung einsetzt, die den Rahmen
sprengt, der Flug, das Triebwerk der Wurzeln Erdbrocken und
Grundwasser regnend, sichtbar zwischen Blick und Blick,
wenn das Auge ALLES GESEHN sich blinzelnd über dem
Bild schließt, zwischen Baum und Frau weit offen das große

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