Heidelberger Jahrbücher der Literatur (56,1.1863)

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Cicero’s Bücher vom Wesen der'Götter, von Kühner.

müsste nothwendig zugleich auch Heiligkeit uud Religion aufge-
hoben werden, und die Aufhebung dieser würde eine grosse Stö-
rung und k'erwirrung des Lebens zur Folge haben. Und ich möchte
wohl behaupten, dass mit der Aufhebung des Pflichtgefühls gegen
die Göttei- auch die Treue und die gesellige Verbindung des Men-
schengeschlechts und eine der vorzüglichsten Tugenden, die Ge-
rechtigkeit, aufgehoben werde.
Es gibt aber auch andere Philosophen, und zwar grosse und
berühmte, welche annehmen, die ganze Welt werde durch den
Verstand und die Vernunft der Götter verwaltet und geleitet, und
nicht dieses allein, sondern es werde von ihnen auch das Leben
der Menschen berathen und für dasselbe Vorsorge getragen. Denn
die Feldfrüchte und die übrigen Erzeugnisse der Erde, die Witte-
rung, der Wechsel der Jahreszeiten und die Veränderungen des
Himmels, wodurch alle Gewächse der Erde zur Reife heranwach-
sen, sind nach ihrer Ansicht als Gaben anzusehen, welche die un-
sterblichen Götter dem Menschengeschlechte ertheilen. Auch stellen
sie Vieles, wovon in diesen Büchern die Rede sein wird, zusam-
men, was von der Art ist, dass man annehmen möchte, die un-
sterblichen Götter hätten eben dieses, so zu sagen, künstlerisch
zum Nutzen der Menschen zubereitet.
Gegen diese Philosophen sprach sich Karneades in vielen Er-
örterungen so scharfsinnig aus, dass er Menschen von nicht be-
schränktem Geiste anregte und ihnen ein Verlangen nach Erfor-
schung der Wahrheit einflösste. Denn es gibt keinen Gegenstand,
über den nicht allein Ungelehrte, sondern auch Gelehrte so wenig
mit einander übereinstimmten. Da nun ihre Ansichten so mannig-
faltig und so untereinander widersprechend sind, so ist in der That
der eine Fall möglich, dass keine derselben, gewiss aber nicht der
andere Fall, dass mehr als eine die richtige sei.“
Clir. Bähr.