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Nr. 39.

HEIDELBERGER

1872.

JAHRBÜCHER DER LITERATUR.

Physiologie des menschlichen Denkens. Von Professor Dr. P. Jessen
in Bornheim bei Kiel. Hannover. Verlag von Cohen und
Risch. 1872.
Die Schrift ist dem Herrn Geh.-Medicinalrath Dr. Flemming
in Schwerin zu seinem 50jährigen Jubiläum gewidmet. «Was ich
Dir hier darbiete, heisst es in der Zueignung, sind die Resultate
einer mehr als 50jährigen Selbstbeobachtung und eines ebenso
lange fortgesetzten Nachdenkens über das Beobachtete. Was mich
zur Herausgabe der Druckschrift veranlasst hat, ist die Entdeckung,
welche ich dem Studium der Aphasie verdanke, dass die Erzeugung
der Gedanken und ihre Darstellung in innerlichen Worten zwei
gesonderte, relativ selbständige und wahrscheinlich an verschiedene
Theile des Gehirnes gebundene Acte der Geistesthätigkeit sind.»
Durch eine beiläufige Bemerkung auf S. 237 erfahren wir auch
das Alter des Herrn Verfassers. Er sagt daselbst: «Ich erinnere
mich gegenwärtig, in meinem 78ten Lebensjahre, keiner einzigen be-
merkenswerthen Täuschung, welche die Sinne mir bereitet hätten, und
welche nicht durch Mangel an Aufmerksamkeit oder äussere Um-
stände, zu schwaches Licht, zu grosse Entfernung u. dgl. herbei-
geführt worden wäre. Dagegen erinnere ich mich sehr vieler, aus
falschen Urteilen und Schlüssen entstandener Täuschungen. . .
Meinen Sinnen vertraue ich unbedingt, gegen meine Theorien bin
ich immer misstrauisch.» Wir glauben ihm diess gerne. Wohl
selten möchte sich eine so normale Constitution, wie die des ehr-
würdigen Greises, finden. In geistiger Beziehung wenigstens legt
das vorliegende Buch Zeugniss dafür ab. Es ist ausserordentlich
frisch und, wie man ihm anmerkt, mit Liebe zum Gegenstände
und ohne vorgefasste Meinungen geschrieben. Dabei ist die Dar-
stellung einfach und lichtvoll, und das Vorgetragene wird durch
meist aus eigener Erfahrung geschöpfte Beispiele so klar erläutert,
dass sich das Buch fast wie eine ünterhaltungsschrift liest. Auch
flicht der Herr Verf. einzelne höchst anziehende Excurse ein, wie
S. 66 über das doppelte, oder (richtiger) alternirende, Bewusstsein,
wo er den Fall erzählt, wie eine junge Dame plötzlich nach einem
langen Schlafe das Bewusstsein ihres früheren Lebens verlor, und,
als wäre ihr Gedächtniss eine tabula rasa, sich mit Personen und
Sachen von neuem bekannt machen, von neuem lesen, schreiben,
rechnen lernen musste; wie sie dann nach mehreren Monaten, aber-
mals aus einem tiefen Schlafe erwachend, sich wiederum mit dem
früheren Bewusstsein befand, dagegen aus dem neuen Zustande,
LXV. Jahrg. 8, Heft. 39
 
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