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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 52.1936-1937

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Stolze, Gustav: Fragment und Torso: Aufbruch zum Ganzen
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https://doi.org/10.11588/diglit.16484#0027

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Fragment und Torso — Aufbruch zum Ganzen. Von Gustav stolze

Unausführbares sann Buonarroti: Das aus erdge-
schichtlichem Zufall entstandene Antlitz der Ge-
birge zu verwandeln nach künstlerischem Gesetz
und in ewige Form. Nichtdagewesenes, Monumen-
tales (man darf nicht an Monumentalfilme denken
bei diesem Wort!) aus dem Stein zu schlagen, plante
sein sinnender Geist. Aber die formende Hand war
zum Vollenden gewillt!

Seltsam: es gibt kaum einen neueren Bildhauer, der
nicht einen ..Torso" vor die Kritik stellt. Es gibt
kaum eine (falsche) Meinung, die so oft geäußert
würde, wie die, daß in einer Skizze oft mehr künst-
lerischer Reiz läge als im vollendeten Werk. Es gibt
heute kaum eine beliebtere Forschung, als die nach
Entwürfen, Skizzen und Vorläufern der großen
Meisterwerke. Das Bruchstück, die „Unvollende-
ten", das Torso- und Skizzenhafte haben einen Sie-
geszug ohnegleichen angetreten.
Wo liegt die Ursache dieser Erscheinung? Ist die
Menschheit sich ihrer Ohnmacht so tief bewußt ge-
worden, daß sie ans Vollendenkönnen nicht mehr
glaubt? Dieselbe Alenschheit, die auf allen realen
Gebieten des Lebens Uberfertigkeiten sich angeeig-
net hat — sollte sie im geistig-künstlerischen Bezirk
ihres Wollens von so unfruchtbarer Skepsis sein?
Oder ist sie hochmütig geworden und glaubt, aus
einem Bleistiftstrich, aus der Gebärde einer Hand,
schon den vollen Sinn eines fertigen Werkes ent-
nehmen zu können?

Irgendeine tiefere Ursache muß sich aufspüren las-
sen. Sollte auch dieNeigung zumFragment, dieAn-
sicht, daß eine flüchtige „Skizze" oft schöner sei als
ein fertiges Bild, aus der Erkenntnis herrühren, daß
wir lange genug die Natur nur abgebildet haben,
daß es in der Kunst um ein Weiteres, Tieferes und
Seelischeres gehen müsse, als in der Photographie?
Man hört sagen, die Skizze „trüge noch die ganze
Kraft des erstenImpulses",sie„verheiße"noch alles,
sie sei sozusagen ursprünglicher als das fertige
Werk, weil zu diesem das Bewußte, Klare, Ord-
nende, das Weglassen aus Vernunft, das Dazutun
aus Kunstverstand organisch gehöre. Die Sympa-
thie mit der Skizze, mit dem Unfertigen entspringt
also der Sympathie mit der Unordnung, zumindest
mit der — Noch-nicht-Ordnung. Sie opponiert ge-
gen den Verstand und begeistert sich am Seelischen,
am Gemüt- und Stimmungshaften.
Für den Künstler, der vor seinem Gesetz nicht nur
zur „Fertigkeit", sondern zum Fertigen verpflichtet
ist, ist diese Rangerhöhung des Unfertigen eine Ge-
fahr, ein Irrtum. Einen „Torso" von vorneherein
zu beabsichtigen, sich und der Welt vorzumachen,
auch ein Rumpf ohne Arme, Kopf und Beine sei
schon Beleg genug für das plastische „Können""
eines Bildhauers, ist ein unkünstlerisches Unterfan-
gen. Die echte, durch keine überspitzte Einseitig-
keit gefährdete künstlerische Absicht ist immer auf

ein Ganzes gerichtet. Und das Augenblicksergebnis,
das in der Skizze noch soviel Klang und inneren
Wert hat, es ist erst dann zum „Werk" geworden,
wenn es auch nach der Kontrolle durch die gestal-
tende Absicht, nach der Einordnung in das fertige
Ganze diesen Klang, diesen inneren Wert nicht nur
nicht verloren, sondern — wenn auch verwan-
delt — gesteigert und sinnfällig gemacht hat.
Die Weltgeschichte, die Kultur und die Kunst, alle
haben vom Fragmentarischen große Anregungen
gewonnen. Denn alle Dinge, alle Erscheinungen
und der Mensch, samt dem, Avas er hervorbringt,
haben die Tendenz zur Vollendung. Wie der Fah-
nenträger, wenn die Kugel ihn trifft, das Feldzei-
chen weitergibt und der Nächste sie voranträgt zum
Siege, so übermittelt das, was als Fragment, als
Torso und Plan zurückblieb, wenn der Tod den
Meister abberief, den Nachfolgenden über die An-
lage und Absicht hinaus auch etwas vom Genius
dessen, der das Werk zuerst im Geiste empfing und
schuf. Und es spricht für die hohen Grade der Ein-
weihung jener großen Meister, wenn noch ihre
Pläne, ihre Skizzen, ihre unvollendeten Werke von
solcher Wucht, Wirkung und Größe sind, daß die
vollendende Hand, das fertigmachende Talent der
Späteren diese nicht übertreffen, ja kaum erreichen
können.

Es spräche aber weder für die Meister noch für die
Kraft ihrer Inspiration, wären sie mit dem Willen
zum Halbfertigliegenlassen ans Werk gegangen.
Die Sklaven Michelangelos — man müßte die zwei
fertiggestellten nicht sehen, um aus den vier als
Torso zurückgebliebenen ihren Sinn, ihre tragende,
schuldhafte Wucht zu deuten. Aber es war in des
Meisters Absicht nicht gelegen, im gebeugten Rük-
ken, in der hochwuchtenden Gewalt zweier Arme
ein Ganzes zu geben. Sondern weil das geplante
Ganze mit solcher Inbrunst gewollt, von solcher
Kraft innerer, auf das Ganze gerichteter Schau kon-
zipiert war, ist auch das Nichtvollendete Schönheit
genug, Inhalt genug. Vor Werken solcher Art, vor
solchen Fragmenten ist es, als hätten die Schicksals-
mächte, die den Schöpfer vor der Zeit ins Schatten-
reich riefen, das innere Bild, das er von seinem
Werk im Herzen trug, in den Stein, auf die Lein-
wände, in die Verse gebannt, auf daß diese zeugten
für die Unsterblichkeit und die Vollendung der
Ideen.

Ein anderes aber ist es um die „Nummern sound-
soviel", die uns in jedem Ausstellungskatalog als
„Torso" begegnen, ein anderes um die „Skizze".
Hier steht, wenn überhaupt eine eigene künstle-
rische Anschauung, dann die dahinter: Das Spiel
der Muskeln, das Volumen des Rumpfes, die leben-
dige Ausdruckskraft dieses oder jenes Torso ist Be-
weis genug für des Künstlers Kraft, auch die ganze
Gestalt lebensvoll, schön, erfüllt und erlebt hinzu-

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