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Illustrirte kunstgewerbliche Zeitschrift für Innendekoration — 9.1898

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Schmitz, Oscar A. H.: Ueber Technik, Form und Stil, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.7396#0119

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Juni-Heft.

Illustr. kunstgewerbl. Zeitschrift für Innen-Dekoration.

Seite 95.

für das Unwahre zu halten und so dürfen heute auch Malerei
und Dichtung, die dem Stoff verwandter, wagen uns in
Welten zu führen, in denen wir sehr heimisch sind, ob wir
sie gleich nie gesehen haben. Ohne die Erziehung, welche
unsere Sinne in der Schule der Tonkunst erhielten, würden
wir die Sprache Böcklins nicht begreifen: die Sprache
der erweiterten Form. — So wie die Kunst vom Unstoff-
lichen — dem Ornament —
ausging — so hat sie in
ihrer Reife — der Musik —
das Stoffliche wieder abge-
worfen. Sie musste eine
Metempsychose durch die
Wirklichkeit vollbringen
und ist in der Musik in das
Nirwana eingegangen, in
welchem sie kein irdisches
Gewand mehr beschwert.

Zusammenfassung: der
primitiven Kunst sind die
Formen der Natur gegeben.
Ihnen strebt sie nach; durch
die technischen Mittel ge-
bunden, ist sie zu Beschrän-
kungen dieser Formen ge-
zwungen. Die Art, wie sie
beschränkt, ist ihr Stil.

Der späten Kunst sind
die fertigen Techniken ge-
geben. Sie strebt neuen
Formen zu; gebunden durch
die — allein verständlichen

— Naturformen kann sie
nur in der Erweiterung,
nicht etwa in der Ausser-
achtlassung derselben, neue
Ausdrucksmittel erhoffen.
Die Art, wie sie erweitert,
ist ihr Stil.

Der primitiven sowie
der späten — d. h. aller
Kunst gemeinsam, ist die
gleichzeitige Verschieden-
heit und Aehnlichkeit mit
der Wirklichkeit. In dieser
wurzelt sie,während ihre um-
grünten Blüthen u. Früchte
im Aether schaukeln.
¥

Je weiter sich die Kunst
vom Technischen zum For-
malen entwickelt, um so hef-
tigere Bewegungszustände
werden ihr auszudrücken
erlaubt sein. So ist die
Malerei höherer Lebhaftig-
keit fähig als die spröderen Porzellan-, Schmiede- und Webe-
techniken; das Drama darf sich heftiger bewegen als die
Malerei, die Musik aber ist dem Dionysos geweiht. Im »Tristan«
ist sie bis zum kosmischen Ausdruck der Begattung gelangt.

Das Misslingen von Kunstwerken — nur von solchen
ist die Sprache, so wirkliche Talente nach Aeusserung streben

— ist fast immer durch ein Missverhältniss zwischen dem
Bewegungszustand und den ruhegebietenden Formen der

gewählten Technik zu erklären, d. h. zwischen der formalen
Freiheit und der technischen Nothwendigkeit.

Wagner hat am klarsten gefühlt wo er mit dem Wort
I am Ende war und wo er, um noch bewegter zu werden,
der Ausdrucksmittel einer ungebundeneren Kunst bedurfte.

Es ist ein Anderes — das griechische Peplum, ein
Anderes — den spanischen Brokatmantel zu tragen.

Abbildung Nr. 849. Wettbewerb IV der »Deutschen Kunst und Dekoration« : Sitz-Möbel. Ein II. Preis.

Wilhelm Michael, München.

Niemals wird eine Kunst, ausser der Musik, solche
Erethismen der Leidenschaft darzustellen vermögen als es
Wagner in dem In-einander-verschmelzen-lassen zweier gleich-
sam wie Naturgewalten scheinender menschlicher Seelen voll-
bracht hat. In dem gesprochenen Drama würden Handlungen
wie der erste Akt der Walküre oder der zweite Akt des
Tristan*) nur zu schwachem Ausdruck gelangen oder dem

*) Indem wir dieses schreiben, wird uns das von Georg Fuchs verfasste Melchior
 
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