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Literatur — Ausstellungen
LITERATUR
Speculum humanae salvationis.
Ein niederländisches Blockbuch. Ider-
ausgegeben von Ernst Kloss. Mün-
chen 1925, R. Piper & Co.
Der tadellos schönen Faksimileaus-
gabe des Speculum humanae salvationis,
das als Bastard zwischen Blockbuch und
Druckhuch auch buchgeschichtlich von
starkem Interesse ist, ist eine Einleitung
vorangesetzt, die die ikonographische
und stilgeschichtliche Stellung des Werks
nach allen Richtungen untersucht. Als
Entstehungszeit ermittelt der Autor die
Spanne 1475—1479, als Entstehungsort
die Gegend von Utrecht. Seine Beweis-
führung ist besonnen und überzeugend,
besonders gut die Stilanalyse, die die
künstlerischen Eigentümlichkeiten der
holländischen Holzschnitte gegenüber
deutschen Erzeugnissen ausgezeichnet
charakterisiert. Dünner ist die ikono-
graphische Exegese ausgefallen, die sich
von der Verwunderung nicht frei zu
machen vermag, »wieviel wir an Sach-
lichkeit des biblischen Verständnisses
seit der Reformation etwa gewonnen
haben«. Die scheinbaren Widersprüche,
die derVerf. mit Erstaunen wahrnimmt,
bestehen für das Speculum nicht, dessen
Proemium ja selbst darlegt, daß, wie das
Wachs die Form des Siegels annehme,
ein Ereignis sowohl Christus als den Teu-
fel bedeuten könne, nur auf den Zusam-
menhang komme es an. Daß die Aus-
weitung des typologischen Bilderkreises,
wie er im Verduner Altar die klassische
Ausprägung und in der Biblia paupe-
rum die populärste Fassung erhalten
hatte, im Speculum eine völlige Auf-
lösung dieser Gedankenwelt herbeiführt,
hat der Verfasser übrigens wohl bemerkt,
aber nicht ausreichend erklärt. Durch
die als Frucht der neuen Theologie des
12. Jahrhunderts sich vollziehende Ver-
änderung des Verhältnisses zum Leben
und Leiden Christi lockert sich die enge
Bindung an das Alte Testament — das
vordem als Garant und Bürge heran-
gerufen worden war — und wird eine
tief im Volksempfinden wurzelnde Er-
scheinung nach und nach in ein literari-
sches Gebiet übergeleitet. Gerade die
im Speculum sich aussprechende Auf-
fassung ist eine deutliche Station auf
dem Wege zur evangelischen Sachlich-
keit gegenüber den biblischen Berichten.
In einem sehr alten und heute ungenü-
genden Aufsatz über »Die typologischen
Bilderkreise des Mittelalters in Öster-
reich« im Jahrbuch der Zentralkommis-
sion 1904 habe ich ausführlicher darüber
gesprochen. H. Tietze
AUSSTELLUNGEN
XVI. Nationale Kunstausstellung
Zürich
Die in diesem Jahr im Züricher Kunst-
haus untergebrachte schweizerische »Na-
tionale« ist eine Art allgemeiner Heer-
schau über das, was heute in der Schweiz
gemalt und gebildhäuert wird. Ungefähr
550 Werke von über 380 Autoren; schon
dieseZahlen zeigen, daß dieVeranstaltung
mehr als eine Statistik angesehen werden
muß. Jeder, der sich ernst um die Kunst
müht, soll Gelegenheit erhalten , an reprä-
sentativer Stelle seine Arbeit zu zeigen.
Eine schöne demokratische Angelegen-
heit, bei der begreiflicherweise die Frage
der künstlerischen Qualifikation der ein-
zelnen zurücktreten muß. Formale Re-
geln bestimmen den Aufbau. Außer
wenigen besonders Eingeladenen darf
von keinem Künstler die Zweizahl der
Werke überschritten werden; wer in
einer bestimmten Zahl von »Nationalen«
ausgestellt hat, muß sich der Jury nicht
mehr unterwerfen. Eine ebenso men-
schenfreundliche wie gefährliche Bestim-
mung! Schwierig auch für die Ausstel-
lungsleitung: durch die fast durch-
gehende Beschränkung auf die Zweizahl
werden Akzente, durch die jede Ausstel-
lung erst ihr eigentliches Leben erhält,
erschwert oder unmöglich gemacht.
Andererseits wird dadurch dem Ge-
schmack sowohl der Aussteller wie auch
des Publikums großzügig Rechnung ge-
tragen. Ob zum Segen für die Kunst,
bleibt allerdings eine offene Frage.
Es liegt nahe, angesichts eines solchen
Querschnittes durch die schweizerische
Produktion an frühere Querschnitte zu
denken. Etwa an den, der in demschönen
vor dem Krieg erschienenen Blauen Buch
Literatur — Ausstellungen
LITERATUR
Speculum humanae salvationis.
Ein niederländisches Blockbuch. Ider-
ausgegeben von Ernst Kloss. Mün-
chen 1925, R. Piper & Co.
Der tadellos schönen Faksimileaus-
gabe des Speculum humanae salvationis,
das als Bastard zwischen Blockbuch und
Druckhuch auch buchgeschichtlich von
starkem Interesse ist, ist eine Einleitung
vorangesetzt, die die ikonographische
und stilgeschichtliche Stellung des Werks
nach allen Richtungen untersucht. Als
Entstehungszeit ermittelt der Autor die
Spanne 1475—1479, als Entstehungsort
die Gegend von Utrecht. Seine Beweis-
führung ist besonnen und überzeugend,
besonders gut die Stilanalyse, die die
künstlerischen Eigentümlichkeiten der
holländischen Holzschnitte gegenüber
deutschen Erzeugnissen ausgezeichnet
charakterisiert. Dünner ist die ikono-
graphische Exegese ausgefallen, die sich
von der Verwunderung nicht frei zu
machen vermag, »wieviel wir an Sach-
lichkeit des biblischen Verständnisses
seit der Reformation etwa gewonnen
haben«. Die scheinbaren Widersprüche,
die derVerf. mit Erstaunen wahrnimmt,
bestehen für das Speculum nicht, dessen
Proemium ja selbst darlegt, daß, wie das
Wachs die Form des Siegels annehme,
ein Ereignis sowohl Christus als den Teu-
fel bedeuten könne, nur auf den Zusam-
menhang komme es an. Daß die Aus-
weitung des typologischen Bilderkreises,
wie er im Verduner Altar die klassische
Ausprägung und in der Biblia paupe-
rum die populärste Fassung erhalten
hatte, im Speculum eine völlige Auf-
lösung dieser Gedankenwelt herbeiführt,
hat der Verfasser übrigens wohl bemerkt,
aber nicht ausreichend erklärt. Durch
die als Frucht der neuen Theologie des
12. Jahrhunderts sich vollziehende Ver-
änderung des Verhältnisses zum Leben
und Leiden Christi lockert sich die enge
Bindung an das Alte Testament — das
vordem als Garant und Bürge heran-
gerufen worden war — und wird eine
tief im Volksempfinden wurzelnde Er-
scheinung nach und nach in ein literari-
sches Gebiet übergeleitet. Gerade die
im Speculum sich aussprechende Auf-
fassung ist eine deutliche Station auf
dem Wege zur evangelischen Sachlich-
keit gegenüber den biblischen Berichten.
In einem sehr alten und heute ungenü-
genden Aufsatz über »Die typologischen
Bilderkreise des Mittelalters in Öster-
reich« im Jahrbuch der Zentralkommis-
sion 1904 habe ich ausführlicher darüber
gesprochen. H. Tietze
AUSSTELLUNGEN
XVI. Nationale Kunstausstellung
Zürich
Die in diesem Jahr im Züricher Kunst-
haus untergebrachte schweizerische »Na-
tionale« ist eine Art allgemeiner Heer-
schau über das, was heute in der Schweiz
gemalt und gebildhäuert wird. Ungefähr
550 Werke von über 380 Autoren; schon
dieseZahlen zeigen, daß dieVeranstaltung
mehr als eine Statistik angesehen werden
muß. Jeder, der sich ernst um die Kunst
müht, soll Gelegenheit erhalten , an reprä-
sentativer Stelle seine Arbeit zu zeigen.
Eine schöne demokratische Angelegen-
heit, bei der begreiflicherweise die Frage
der künstlerischen Qualifikation der ein-
zelnen zurücktreten muß. Formale Re-
geln bestimmen den Aufbau. Außer
wenigen besonders Eingeladenen darf
von keinem Künstler die Zweizahl der
Werke überschritten werden; wer in
einer bestimmten Zahl von »Nationalen«
ausgestellt hat, muß sich der Jury nicht
mehr unterwerfen. Eine ebenso men-
schenfreundliche wie gefährliche Bestim-
mung! Schwierig auch für die Ausstel-
lungsleitung: durch die fast durch-
gehende Beschränkung auf die Zweizahl
werden Akzente, durch die jede Ausstel-
lung erst ihr eigentliches Leben erhält,
erschwert oder unmöglich gemacht.
Andererseits wird dadurch dem Ge-
schmack sowohl der Aussteller wie auch
des Publikums großzügig Rechnung ge-
tragen. Ob zum Segen für die Kunst,
bleibt allerdings eine offene Frage.
Es liegt nahe, angesichts eines solchen
Querschnittes durch die schweizerische
Produktion an frühere Querschnitte zu
denken. Etwa an den, der in demschönen
vor dem Krieg erschienenen Blauen Buch