KUNSTCHRONIK UND KUNSTMARKT
HERAUSGEBER ALFRED KUHN
NR. 44/45 6./13. FEBRUAR 1926
DIE STÄDTEBAULICHE ZUKUNFT ROMS
IM 20. JAHRHUNDERT
VON RUDOLF WITTIvOWER
Seit der Einigung Italiens und der Erklärung Roms zur Hauptstadt des
gesamten Reiches ist mehr als ein halbes für Roms Entwicklung folgen-
schweres Jahrhundert vergangen. Schon bald nach der Verlegung der Re-
gierung in die Tiberstadt begann sie ihre altehrwürdige Physiognomie gegen
die platte Charakterlosigkeit moderner Großstädte zu vertauschen. Schnur-
grade Straßen, die gleichsam in den Leib eines feinnervigen Organismus
hineinschneiden, und moderne sechsstöckige Mietskasernen, die gemeinsten
utilitaristischen Interessen einer zügellosen Bodenspekulation und Boden-
ausnutzung ihr Leben verdanken, entstanden mit staunen erregender Ge-
schwindigkeit. Unter solchen Bedingungen fiel jede Rücksicht gegenüber
dem durch Jahrtausende alte Geschichte geweihten Boden.
Wir kennen die Klagen der Besten, die das Rom vor und nach der
Einigung erlebten. Aber die Stimmen der Gregorovius, Grimm, Lanciani,
Quintius Sella und all der anderen verhallten ungehört. Ja, es gelang der
rücksichtslosen Spekulationswut mehr zu erreichen, als jeder befürchtet
hatte. So fiel, wie Grimm schmerzvoll ausruft, »der schönste Garten der
Welt«, der zwischen Porta Pinciana und Porta Salaria gelegene Park der
Villa Ludovisi den Äxten der Unternehmer zum Opfer. Die gleiche Politik, in
ruhigere Bahnen geleitet, wurde bis in die jüngste Zeit fortgetrieben. Die Pro-
blemstellung spitzte sich aber infolge der rapide anwachsenden Bevölkerung
— seit 1870 hat sie sich vervierfacht — in solchem Maße zu, daß durch die
Verkehrsschwierigkeiten, die Wohnungsnot und den Mangel an großen öffent-
lichen Gebäuden die Stadtverwaltung und die Kommission des Regulierungs-
planes heute freiwillig oder ungewollt vor ein Entweder-Oder gestellt werden.
Der durch all die Jahrzehnte aufrecht erhaltene und noch im Piano
Regolatore von 1916 durchgeführte Gedanke der Vereinigung des alten und
modernen Rom zu einem Ganzen, das allen modernen Ansprüchen Genüge
leistet und die Kunstwerke der alten Stadt in ausreichendem Maße konser-
viert, stellt sich immer klarer als ein unfruchtbarer Kompromiß heraus. Man
wird gezwungen, heiligste Kulturgüter nicht nur der Römer und Italiener,
sondern aller Gebildeten in immer weiterem Ausmaß zu vernichten, ohne
dem Ziel einer modernen Stadt auch nur näher zu kommen.
HERAUSGEBER ALFRED KUHN
NR. 44/45 6./13. FEBRUAR 1926
DIE STÄDTEBAULICHE ZUKUNFT ROMS
IM 20. JAHRHUNDERT
VON RUDOLF WITTIvOWER
Seit der Einigung Italiens und der Erklärung Roms zur Hauptstadt des
gesamten Reiches ist mehr als ein halbes für Roms Entwicklung folgen-
schweres Jahrhundert vergangen. Schon bald nach der Verlegung der Re-
gierung in die Tiberstadt begann sie ihre altehrwürdige Physiognomie gegen
die platte Charakterlosigkeit moderner Großstädte zu vertauschen. Schnur-
grade Straßen, die gleichsam in den Leib eines feinnervigen Organismus
hineinschneiden, und moderne sechsstöckige Mietskasernen, die gemeinsten
utilitaristischen Interessen einer zügellosen Bodenspekulation und Boden-
ausnutzung ihr Leben verdanken, entstanden mit staunen erregender Ge-
schwindigkeit. Unter solchen Bedingungen fiel jede Rücksicht gegenüber
dem durch Jahrtausende alte Geschichte geweihten Boden.
Wir kennen die Klagen der Besten, die das Rom vor und nach der
Einigung erlebten. Aber die Stimmen der Gregorovius, Grimm, Lanciani,
Quintius Sella und all der anderen verhallten ungehört. Ja, es gelang der
rücksichtslosen Spekulationswut mehr zu erreichen, als jeder befürchtet
hatte. So fiel, wie Grimm schmerzvoll ausruft, »der schönste Garten der
Welt«, der zwischen Porta Pinciana und Porta Salaria gelegene Park der
Villa Ludovisi den Äxten der Unternehmer zum Opfer. Die gleiche Politik, in
ruhigere Bahnen geleitet, wurde bis in die jüngste Zeit fortgetrieben. Die Pro-
blemstellung spitzte sich aber infolge der rapide anwachsenden Bevölkerung
— seit 1870 hat sie sich vervierfacht — in solchem Maße zu, daß durch die
Verkehrsschwierigkeiten, die Wohnungsnot und den Mangel an großen öffent-
lichen Gebäuden die Stadtverwaltung und die Kommission des Regulierungs-
planes heute freiwillig oder ungewollt vor ein Entweder-Oder gestellt werden.
Der durch all die Jahrzehnte aufrecht erhaltene und noch im Piano
Regolatore von 1916 durchgeführte Gedanke der Vereinigung des alten und
modernen Rom zu einem Ganzen, das allen modernen Ansprüchen Genüge
leistet und die Kunstwerke der alten Stadt in ausreichendem Maße konser-
viert, stellt sich immer klarer als ein unfruchtbarer Kompromiß heraus. Man
wird gezwungen, heiligste Kulturgüter nicht nur der Römer und Italiener,
sondern aller Gebildeten in immer weiterem Ausmaß zu vernichten, ohne
dem Ziel einer modernen Stadt auch nur näher zu kommen.