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Kunstgeschichtliche Gesellschaft zu Berlin [Hrsg.]
Kunstchronik und Kunstmarkt: Wochenschrift für Kenner und Sammler — 59.1925/​1926 (Oktober-März)

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Nr. 48/49
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Eberlein, Kurt Karl: Rousseau oder die Matrosenkunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.41232#0291

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KUNSTCHRONIK UND KUNSTMARKT
HERAUSGEBER ALFRED KUHN
NR. 48/49 6./13. MÄRZ 1926

ROUSSEAU ODER DIE MATROSENKUNST
VON KURT KARL EBER LEIN
Man weiß, wie man immer wieder aus gealterten Zuständen und Kulturen
zurückfloh in Jugend und Unschuld, Ländlichkeit und Armut, Para-
dies und Wildnis, welche Rolle immer wieder der Bauer, der Fremde, der
Wilde, das Kind im europäischen Geistesleben zu spielen hatten. Ja, man hat
auch den Irren um seine dialogische, den Gefangenen um seine monologische
Zelle beneidet und in allen diesen abgeschlossenen, ungebrochenen Kräften
die verlorene Bildkraft künstlerischer Phantasie gesucht. So wurde die
Exotenkunst, die Volkskunst, die Kinderkunst, die Irrenkunst, die Gefangenen-
kunst erforscht, proklamiert, bewundert, beraubt, und die gesunden Form-
elemente des Exotismus und Infantilismus — die sich seltsam mit den
bedeutungsvollen Bildzeichen der Geisteskranken berühren — haben in
manchem durch geheimnisvolle Zuchtwahl anregend und fördernd gewirkt.
Der neue Formwille zu schlichten, wesentlichen Kunstformen hat neuer-
dings eine verdächtige Bauern- und Arbeiterkunst gezeitigt, also eine Laien-
kunst, die in ihrer primitiven Triebkraft der Kinderkunst nahesteht, künstle-
risch aber durch mangelhafte Technik, unbewußte Geistlosigkeit und
aufgeklärte Unbildung vollkommen wertlos ist. Diese überall und jederzeit
geübte Laienkunst, die man wegen ihrer liebevollen und heimatlosen Belang-
losigkeit eigentlich »MatrosenkunsU nennen könnte, ist nichts als eine Abart
der Volkskunst, wie sie auf Wirtshaus- und Ladenschildern, Jahrmarkts-
zelten, Flugblättern, Uhrenschildern und Geräten immer wieder zu finden war.
So wissen wir heute die brave und liebevolle Malerei des badischen Schwarz-
waldes — die eine überraschende Bildnismalerei entwickelt hat — neu zu
schätzen, und es wäre ein leichtes, mehrere badische Rousseaus zu ent-
decken. Die primitiven Jugendwerke Hans Thomas, die sich aus der Fland-
werklehre der Uhrenschildmalerei erklären lassen, sind entweder Kunstwerke
ersten Ranges — und dann sind seine späteren Meisterwerke nichts — oder
dieser Infantilismus ist überhaupt keine Kunst, sondern Matrosenkunst.
Dies alles verweist uns auf das Problem Henri Rousseau, das heute durch
eine wachsende Literatur und durch die vortreffliche Ausstellung in der
Berliner Kunsthandlung Alfred Flechtheim die Meinungen und Widersprüche
belebt und diese Zeilen bewirkt.
Rousseau, der heute in Deutschland mehr verehrt und gesucht wird
 
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