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Literatur
mumien der Neuen Hebriden1, — wäre man dort ganz ins Imaginative
versenkt, wie käme man dann zur porträthaften Wiedererweckung des Toten?
Die materialistische These von der Abhängigkeit des Kunsttriebes und
seiner Abarten von dem verwandelnden Einfluß der übermächtigen Wirt-
O
Schaft ist in ihrem Nerv getroffen, sobald ihre Voraussetzung der wirk-
lichen Entsprechung von Kunst- und Wirtschaftsformung als irrig auf-
gewiesen ist. Ehisere Skizze zeigt, daß diese Voraussetzung in der Tat un-
zutreffend ist. Mit der Voraussetzung fällt auch ihre folgernde Interpretation,
die nicht mehr als nützlich oder gar nötig anerkannt werden kann. Ehe-
mals war sie eine Arbeitshypothese, die wie alle ihrer Art eine gewisse
Übersichtlichkeit der Gruppierung und eine Entlastung von noch unlösbaren
Problemen enthielt und darum eine Zeitlang von Wert war. Seitdem wir
aber eine allgemeine Übersicht über die Kunstsprache der verschiedenen
Völker, wenigstens in ihren Grundzügen, erlangt haben, erscheint es als
zweckmäßig, zu anderen, moderneren Problemstellungen überzugehen. Ob
solche weiteren Versuche, wie z. B. die These der Äquivalenz von Religion
und Kunst, brauchbarer oder dauerhafter sind, muß die Zukunft lehren.
Vorläufig scheint für die Einheit der kunstgeschichtlichen Methodik und
für die Einsicht in den Sachverhalt viel gewonnen, wenn man die mate-
rialistische Erklärungsweise der naturvölkischen Kunstunterschiede abweisen
kann. Im übrigen war es wertvoll, jenen Gedankengang zu Ende zu denken,
wie es Kühn im ganzen so konsequent getan hat. Denn nur auf diese
Weise werden alle Vorzüge und Schattenseiten eines Prinzips sichtbar ans
Tageslicht gestellt.
LITERATUR
Claude Lorrain, Tuschzeichnun-
gen. 43. Druck der Marees-Gesellschaft.
Piper & Co. 1925.
Meier-Graefes außerordentliches Fein-
gefühl für künstlerische Werte konnte
an den herrlichsten Dokumenten, die es
auf dem Gebiete der Landschaftszeich-
nung überhaupt gibt, nicht Vorbeigehen:
an den Tuschzeichnungen Claude Lor-
rains. Es ist charakteristisch, daß eine
Kategorie dieser Zeichnungen am meisten
bekannt worden ist: die des sog. »Liber
Veritas« in Chatsworth, wozu freilich
Mezzotinto-Reproduktionen von Earlom
sehr viel beitragen. Doch sind gerade
diese Zeichnungen, nur Nachzeichnun-
gen Claudes nach seinen eignen Gemäl-
den zum Zwecke der Notierung und daher
unlebendig und enttäuschend für jeden,
der — auch vor den Originalen in Chats-
wortli -— die Persönlichkeit des Meisters
sucht. Um so mehr, wenn er vorher die
ganz unvergleichliche Sammlung der un-
mittelbaren Studien Claudes im British
Museüm durch seine Hände hat gehen
lassen. Denn erst hier vor diesen Natur-
skizzen wie Kompositions-Studien offen-
bart sich die ganze Größe und Tiefe des
Meisters, dieses unnachahmliche Sichein-
fühlenin die Atmosphäre des Seins, diese
Beherrschung der feinsten Gradationen
des Lichtes vom dunklen Schatten, der
über dem Wasser des Tiber lagert, bis in
den feinsten Lichttönen der fernen Hü-
gel oder des von der aufgehenden Sonne
1) Ebenda, S. 23 f.
Literatur
mumien der Neuen Hebriden1, — wäre man dort ganz ins Imaginative
versenkt, wie käme man dann zur porträthaften Wiedererweckung des Toten?
Die materialistische These von der Abhängigkeit des Kunsttriebes und
seiner Abarten von dem verwandelnden Einfluß der übermächtigen Wirt-
O
Schaft ist in ihrem Nerv getroffen, sobald ihre Voraussetzung der wirk-
lichen Entsprechung von Kunst- und Wirtschaftsformung als irrig auf-
gewiesen ist. Ehisere Skizze zeigt, daß diese Voraussetzung in der Tat un-
zutreffend ist. Mit der Voraussetzung fällt auch ihre folgernde Interpretation,
die nicht mehr als nützlich oder gar nötig anerkannt werden kann. Ehe-
mals war sie eine Arbeitshypothese, die wie alle ihrer Art eine gewisse
Übersichtlichkeit der Gruppierung und eine Entlastung von noch unlösbaren
Problemen enthielt und darum eine Zeitlang von Wert war. Seitdem wir
aber eine allgemeine Übersicht über die Kunstsprache der verschiedenen
Völker, wenigstens in ihren Grundzügen, erlangt haben, erscheint es als
zweckmäßig, zu anderen, moderneren Problemstellungen überzugehen. Ob
solche weiteren Versuche, wie z. B. die These der Äquivalenz von Religion
und Kunst, brauchbarer oder dauerhafter sind, muß die Zukunft lehren.
Vorläufig scheint für die Einheit der kunstgeschichtlichen Methodik und
für die Einsicht in den Sachverhalt viel gewonnen, wenn man die mate-
rialistische Erklärungsweise der naturvölkischen Kunstunterschiede abweisen
kann. Im übrigen war es wertvoll, jenen Gedankengang zu Ende zu denken,
wie es Kühn im ganzen so konsequent getan hat. Denn nur auf diese
Weise werden alle Vorzüge und Schattenseiten eines Prinzips sichtbar ans
Tageslicht gestellt.
LITERATUR
Claude Lorrain, Tuschzeichnun-
gen. 43. Druck der Marees-Gesellschaft.
Piper & Co. 1925.
Meier-Graefes außerordentliches Fein-
gefühl für künstlerische Werte konnte
an den herrlichsten Dokumenten, die es
auf dem Gebiete der Landschaftszeich-
nung überhaupt gibt, nicht Vorbeigehen:
an den Tuschzeichnungen Claude Lor-
rains. Es ist charakteristisch, daß eine
Kategorie dieser Zeichnungen am meisten
bekannt worden ist: die des sog. »Liber
Veritas« in Chatsworth, wozu freilich
Mezzotinto-Reproduktionen von Earlom
sehr viel beitragen. Doch sind gerade
diese Zeichnungen, nur Nachzeichnun-
gen Claudes nach seinen eignen Gemäl-
den zum Zwecke der Notierung und daher
unlebendig und enttäuschend für jeden,
der — auch vor den Originalen in Chats-
wortli -— die Persönlichkeit des Meisters
sucht. Um so mehr, wenn er vorher die
ganz unvergleichliche Sammlung der un-
mittelbaren Studien Claudes im British
Museüm durch seine Hände hat gehen
lassen. Denn erst hier vor diesen Natur-
skizzen wie Kompositions-Studien offen-
bart sich die ganze Größe und Tiefe des
Meisters, dieses unnachahmliche Sichein-
fühlenin die Atmosphäre des Seins, diese
Beherrschung der feinsten Gradationen
des Lichtes vom dunklen Schatten, der
über dem Wasser des Tiber lagert, bis in
den feinsten Lichttönen der fernen Hü-
gel oder des von der aufgehenden Sonne
1) Ebenda, S. 23 f.