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Literatur
daß 'man heute in eine Sackgasse geraten ist, in Deutschland wie in den
anderen Ländern. Wenn wir darin zu Ergebnissen gelangen würden, wenn
der ganze Produktionsprozeß zielbewußter und rationeller, gestaltet würde,
dann könnten wir allerdings mit solcher Leistung Aussicht haben, auf dem
Gebiete der Werkkunst den Völkern voranzugehen.
L ITER ATUR
Raffaels Zeichnungen, herausge-
geben von Oskar Fischel. Abteilung V.
Berlin 1924, G. Grotesche Verlagsbuch-
handlung.
Die große Publikation aller Zeichnun-
gen Raffaels, über die an dieser Stelle
wiederholt berichtet wurde, ein standard-
work im wahrsten Wortsinn, ist nun dort
angelangt, wo Raffael sich zu den Schöp-
fungen, auf denen seine welthistorische
Bedeutung beruht, vorbereitet: den vati-
kanischen Stanzen. Im Mittelpunkt dieser
Abteilung steht die Segnatura und zwar
die Decke, der Parnaß und diebeiden Dar-
stellungen der Einsetzung des geistlichen
und weltlichen Rechtes. Einige wenige
der 45 Tafeln halten sich außerhalb,
stehen aber stilistisch der Hauptmenge
der Blätter ganz nahe; so klingt noch
einmal das Thema der »Kampfzeichnun-
gen« an, von dem aus Fäden zu Rund-
hildern der Decke herüberführen; und
in diesen Zusammenhang gehört auch
die Komposition des »Bethlehemitischen
Kindermords«, in Marc Antons Stich
bewahrt, für die einige vorbereitende
Studien hier -—- an der Stelle, an die
sie gehören — mitgeteilt sind.
Vieles allbekannt, aber wie vieles wird
auch selbst dem Spezialisten neu sein.
Die geschlossene Masse der Studien für
den Parnaß gibt so recht Einblick in die
Sorgfalt der Vorbereitung; Bewegungs-
motive, Figuren mit Draperien, daneben
Hände und Füße; jedes einzelne sollte,
aus lebendiger Anschauung hervorge-
gangen, so expressiv sein als nur möglich.
Dies war dem Zeichner unendlich viel
wichtiger als ein geistvoller Vortrag;
er ist hier vielfach so sachlich, daß er
gelegentlich fast trocken wirkt.
Aber auch hier in dieser Zusammen-
stellung beobachtet man wieder die er-
staunliche Vielseitigkeit; in den ver-
schiedensten Ausdrucksformen bewegt
er sich — am merkwürdigsten wohl die
Pinselzeichnung für die Überreichung
des Corpus juris. Es wird hier gewiß
manchem so gehen wie dem Referenten,
daß ein Blatt wie dieses so gar nicht zu
der Vorstellung passen will, die wir uns
von Raffael als Zeichner machen; prüft
man dann aber die Gründe des Heraus-
gebers, so wird man nicht umhin können,
ihm zuzustimmen, »wo sich ein solcher
Überschuß an Gedanken über das Fresko
hinaus findet«.
Ist vieles, eigentlich alles, in dieser Auf-
reihung zur festgeschlossenen Kette dem
Fachmann wichtig, so wird der Kunst-
freund bei einigen Blättern verweilen,
die zum Feinsten und Unmittelbarsten
gehören, was uns von Raffael erhalten
ist. Dahin rechne ich vor allem den
ersten Entwurf zur »Theologie« (Feder-
zeichnung, Oxford), die hoch inspirierte
Schöpfung eines glü cklichen Augenblicks,
da sich ihm vielleicht zum ersten Mal
der Typus der römischen Frau erschloß;
und wirklich »last but not least«, das
letzte Blatt der Mappe, das Porträt
Julius’ II., Rötel, in der Sammlung in
Chatsworth, die Studie, die ihm wohl für
alle Papstbildnisse gedient hat. Hoheits-
volle Würde, die Resignation des Alters,
aber auch echte Menschengüte hat er im
tiefsten erfaßt und mit seiner nachfüh-
lenden Hand unvergeßlich festgehalten;
es ist gewiß das menschlich schönste Ab-
bild des gewaltigen Mannes, das wir be-
sitzen — von doppeltem Wert für uns,
wo das Freskoporträt der Segnatura ge-
litten hat, das Bildnis der Uffizien aber
unter einer (so leicht zu entfernenden!)
dicken Firnisschicht seine Qualitäten
verbirgt.
So bietet auch dieser Band eine Fülle
an Bereicherung und Erkenntnissen
und bereitet glücklich vor für den näch-
Literatur
daß 'man heute in eine Sackgasse geraten ist, in Deutschland wie in den
anderen Ländern. Wenn wir darin zu Ergebnissen gelangen würden, wenn
der ganze Produktionsprozeß zielbewußter und rationeller, gestaltet würde,
dann könnten wir allerdings mit solcher Leistung Aussicht haben, auf dem
Gebiete der Werkkunst den Völkern voranzugehen.
L ITER ATUR
Raffaels Zeichnungen, herausge-
geben von Oskar Fischel. Abteilung V.
Berlin 1924, G. Grotesche Verlagsbuch-
handlung.
Die große Publikation aller Zeichnun-
gen Raffaels, über die an dieser Stelle
wiederholt berichtet wurde, ein standard-
work im wahrsten Wortsinn, ist nun dort
angelangt, wo Raffael sich zu den Schöp-
fungen, auf denen seine welthistorische
Bedeutung beruht, vorbereitet: den vati-
kanischen Stanzen. Im Mittelpunkt dieser
Abteilung steht die Segnatura und zwar
die Decke, der Parnaß und diebeiden Dar-
stellungen der Einsetzung des geistlichen
und weltlichen Rechtes. Einige wenige
der 45 Tafeln halten sich außerhalb,
stehen aber stilistisch der Hauptmenge
der Blätter ganz nahe; so klingt noch
einmal das Thema der »Kampfzeichnun-
gen« an, von dem aus Fäden zu Rund-
hildern der Decke herüberführen; und
in diesen Zusammenhang gehört auch
die Komposition des »Bethlehemitischen
Kindermords«, in Marc Antons Stich
bewahrt, für die einige vorbereitende
Studien hier -—- an der Stelle, an die
sie gehören — mitgeteilt sind.
Vieles allbekannt, aber wie vieles wird
auch selbst dem Spezialisten neu sein.
Die geschlossene Masse der Studien für
den Parnaß gibt so recht Einblick in die
Sorgfalt der Vorbereitung; Bewegungs-
motive, Figuren mit Draperien, daneben
Hände und Füße; jedes einzelne sollte,
aus lebendiger Anschauung hervorge-
gangen, so expressiv sein als nur möglich.
Dies war dem Zeichner unendlich viel
wichtiger als ein geistvoller Vortrag;
er ist hier vielfach so sachlich, daß er
gelegentlich fast trocken wirkt.
Aber auch hier in dieser Zusammen-
stellung beobachtet man wieder die er-
staunliche Vielseitigkeit; in den ver-
schiedensten Ausdrucksformen bewegt
er sich — am merkwürdigsten wohl die
Pinselzeichnung für die Überreichung
des Corpus juris. Es wird hier gewiß
manchem so gehen wie dem Referenten,
daß ein Blatt wie dieses so gar nicht zu
der Vorstellung passen will, die wir uns
von Raffael als Zeichner machen; prüft
man dann aber die Gründe des Heraus-
gebers, so wird man nicht umhin können,
ihm zuzustimmen, »wo sich ein solcher
Überschuß an Gedanken über das Fresko
hinaus findet«.
Ist vieles, eigentlich alles, in dieser Auf-
reihung zur festgeschlossenen Kette dem
Fachmann wichtig, so wird der Kunst-
freund bei einigen Blättern verweilen,
die zum Feinsten und Unmittelbarsten
gehören, was uns von Raffael erhalten
ist. Dahin rechne ich vor allem den
ersten Entwurf zur »Theologie« (Feder-
zeichnung, Oxford), die hoch inspirierte
Schöpfung eines glü cklichen Augenblicks,
da sich ihm vielleicht zum ersten Mal
der Typus der römischen Frau erschloß;
und wirklich »last but not least«, das
letzte Blatt der Mappe, das Porträt
Julius’ II., Rötel, in der Sammlung in
Chatsworth, die Studie, die ihm wohl für
alle Papstbildnisse gedient hat. Hoheits-
volle Würde, die Resignation des Alters,
aber auch echte Menschengüte hat er im
tiefsten erfaßt und mit seiner nachfüh-
lenden Hand unvergeßlich festgehalten;
es ist gewiß das menschlich schönste Ab-
bild des gewaltigen Mannes, das wir be-
sitzen — von doppeltem Wert für uns,
wo das Freskoporträt der Segnatura ge-
litten hat, das Bildnis der Uffizien aber
unter einer (so leicht zu entfernenden!)
dicken Firnisschicht seine Qualitäten
verbirgt.
So bietet auch dieser Band eine Fülle
an Bereicherung und Erkenntnissen
und bereitet glücklich vor für den näch-