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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 12,1.1898-1899

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Heft 1 (1. Oktoberheft 1898)
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Lier, Leonhard: Dramen, die wir wünschen
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https://doi.org/10.11588/diglit.7957#0017

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zelnen, regen nn zur sorgsamen Selbstschau, gar oft auch zur zrvecklosen Hirn-
grüblerei und Selbstsektion, aber sie regen nicht an zum Handeln, sie wecken
keinen Willen —, sie drehen uns immer in demselben Kreise herum und
hinterlassen trotz aller individuellen Wahrheit, trotz aller überraschenden Wir-
kung des Momenteindruckes schließlich eine peinliche Leere.

Hinter aller Kunst steckt zuletzt das Persönliche, wir alle suchen es ge-
radezu, wenn auch unbewußt, so lange wir in der Kunst überhaupt mehr
suchcn als eine Finger- oder Kopffertigkeit. An Finger- und Kopffertigkeit
fehlt es nun unseren jüngeren Dramatikern nicht, sie haben in ihrer, allerdings
ziemlich äußerlichen Weise sehen und danach bilden gclernt, aber wenn man
nach dem Temperament fragt, durch welchcs hindurch alles dies geschen, ge-
bildet ist, ja, dann kennt man sich schwer aus. Haben sie ein Temperament,
eine individuelle Weise, die Dinge zu sehen? Kaum, sie haben höchstens Tem-
peramente, Tempcramente, die sich zuweilen mit der Saison, mit dem Erfolge
wechseln lassen. Als Künstler sind sie reifcr geworden, als Persönlichkeitcn,
d. h. als Männer von Willen, von eincr Weltanschauung sind sie's gewiß nicht.
Der ganze Nnrat unserer Zcit, das Sichhinübergleitenlassen von einem Tage
zum andern, von Welle zu Welle, ein Segeln nach jcder springenden Laune des
Windes kennzeichnet unsere moderne Dramatik von vornherein als eine Arbeit
des Tages für den Tag. Lausch ich aber ticfer in das (Sewirr der Stimmen
hinein, so glaube ich einen Ton immer deutlicher zu vernehmen: den einer
großen Sehnsucht, der dem Gefühle der Unrast, der Ziellosigkeit, dcr Zu-
sälligkeit entspringt. Es ist cine aufdämmernde Erkenntnis, die noch nicht
stark genug ist, Gestalt zu gewinnen. Jn cinzclnen Dramen freilich ist ihre
Stimme schon laut, aber noch ist sie vcrworren, und die Klänge zerflattern,
ohne Melodie zu werden.

Nach dieser Seele, die sich zu regen beginnt, schauen heute wir alle aus.
Nicht mehr Naturalismus noch Jdealismus, nicht mehr Fragen dcr Form
vermögen uns innerlich zu bes'chäftigen, zum mindesten nicht als das Wich-
tigste. Jst der große Jnhalt da, so wird er die Formen findcn, cr wird sie
fich schaffen. Und welchc Kunst diesen Jnhalt bringe, sie wird siegen. Es ist
schwer, kolchen Hoffnungen und Wünschcn klarc Worte zu geben: dunkel und
unklar wie unsere Hoffnungen und Wünsche selbst sind, widerstrebcn sie der
scharfen Umgrenzung durch den Begriff. So viel aber kann man mit Be-
stimmtheit sagen: nicht die Form des neuen Dramas interessiert uns so sehr,
diese Fragen sind wohl nun entschieden, aber das dichterische Weltbild
der Zukunst nimmt alle unsere Erwartungen in Anspruch. Etwas wie ein Faust
des zwanzigsten Jahrhunderts thut uns not. Nach allzulangem Aufenthalt in
dumpfer Alltagsenge sehnen wir uns nach weiten Ausblicken, nach Fernsichten
von ragenden Gipfeln, nach Ewigkeitsgedanken; nachdem wir lange, die Augen
am Boden, schleichen und kriechen mußten, möchten wir wieder aufrecht und
vorwärtsschreitcn, ja, flicgen möchten wir sogar, wie .unmodern" das scheinen
mag. Möchte uns das Drama wieder mehr bringen als neue „Sensationen",
dieses ersehnte neue Drama, oder richtiger überhaupt: dieses neue Kunstwerkl
Thut es das, so wird es thun, was cchte Kunst vermag, es wird neue Lebens-
quellen erschließen, allen, die da dürsten, zum Heile! Leonh. Li er.

Aunstwart

(. Gktoberheft ;8y8
 
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