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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 12,1.1898-1899

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Heft 6 (2. Dezemberheft 1898)
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Jugendschriften
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https://doi.org/10.11588/diglit.7957#0193

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12. Zabrg. Lwettes Dezemberbett rsss. Dett 6.

Zugendscbritten.

Ob rvir Christen sind oder Heiden. ob wir von „Nächstenliebe" zu
reden gewöhnt sind oder von „Altruismus"' — das Christentum hat
für jeden ernsten Menschen dem Weihnachtsfeste das „Denke der Andern"
aufgeprägt. Die Stimmung, der Konrad Ferdinand Meyer in dcm er-
habenen Gedicht „Alle" Gestalt gegeben hat, das wir mit dem vorigen
Hcfte den Lescrn unterbreiten dursten, für jeden sittlich Gereiften ist sie
die echte Weihnachtsstimmung. Und nicht nur auf die leibliche Not be-
zieht sie sich. Wer aber gewöhnt ist, vor allem auf die geistige zu
schn, der erkennt mit grüßendcm Auge neben den Nutzpflanzungen unsrer
Kultur noch dunkle Weiten ungerodeten Landes: urbar gemacht, werden
sie einst wogen vom goldenen Korn für die Seelen. Wenn ihn das Leid
der Brüder schmerzt, ruft ihn die Fülle der Aufgaben für frohe Arbeit
von der Klage zur That, und immer wieder, wenn mit den neuen
Ernten neucs Saatkorn reift.

Da licgt das Gebiet der ästhetischen Erziehung des Menschen so gut
wie unbebaut vor unscrm Blick, Urwald noch an der einen Stelle, an
der andcrn Sumpf, der einst mehr war. Aesthetische Erziehung — wie
wenige wissen auch nur, um wie unüberschätzbar Wichtiges sich's da
handelt! Aesthetische Erziehung — sie denken an so etwas dabei, wie an
Erziehung zur Feinschmeckerei, daß man die fcincn Weine und Zigarrcn
auf der Luxustafel künstlerischer Genüsse recht unterschcidcn und würdigen
lerne. Sie wisscn nicht, daß gerade das Kunstgigerltum kein Ding so
sehr zu sürchten hätte, wic ästhetische Erziehung. Sie wissen nicht, daß
selbst, wenn wir Kunst betrachten und hören, das Kunstwerk uns nur
der Führer ist dahin, wo wir rasten, während der „Aesthese" mit der
Schwächlichkeit seiner einscitig überseinerten Nerven nicht weiter kann,
als bis zu Leinwand oder Noten- oder Buchblatt. Nicht die Kunst
genießen roir in der Kunst, sondern im letzten wieder die Natur,
wie sie da draußen als Landschaft sich auslebt in unendlichen Farben
und Formen und drinnen in uns als das Reich der Phantasie, mil-

Kunstwart 2. Dezemberheft ^8zs
 
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