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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 12,1.1898-1899

DOI Heft:
Heft 7 (1. Januarheft 1899)
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Lier, Leonhard: Vom modernen Drama
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https://doi.org/10.11588/diglit.7957#0242

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Dolkstmülichen Jmpulse, die bei Grillparzer nicht vicl weniger bcmerkenswcrt
sind, als bei Bauernfeld, Raimund und Nestroy. Daß er solchen Jmpulsen
nur wenig unterworfen war, ist vielleicht nicht der letzte Grund der geringcn
Wirkung, die von einem so produktiven Talent, wie es das Franz Nissels ge-
wesen, ausgegangen ist. Sittenbcrger kommt am Schlusse seiner so eingehen-
Len wie anregenden Studie übcr dcn Dichter zu dem Ergebnis: „Nissel ist ein
Wiener Kind, aber Wiener Art ist in ihm nicht lebendig geworden, im Mem
schen gar nicht, im Dichter äußerst selten." Aber nicht das allein war ein
Verhängnis für den Dichter, ein weit größercs für ihn war sein Strcben nach
einem Muster, dem er kcine nennenswerte Persönlichkeit entgegenzusetzen hatte,
nach Schiller. Nissel ist in dcr That geradezu das Muster eines unglücklichcn
Schillerepigonen, der nur selten den Mut hat, er selbst zu sein, und immer,
so schönes ihm auch gelingt, unter seinem Jdeale bleibt. Sittenbergcr nennt
ihn den Tragiker der österreichischen Bourgeoisie, d. h. einer Bourgeoisie, der
zum Tragischen nicht weniger als alles fehlt. Der Standpunkt, von dem aus
Sittcnberger seine Studien anstellt, ist der des Realismus, wie er in den
süngeren Werkcn Goethes, in denen Klcists, Hebbcls, Grillparzcrs und Ludwigs
zur That geworden ist. Der Verfasser spricht sich zwar an keiner Stelle des
näheren über diesen seinen Siandpunkt aus, aber, so sehr er auch die einzelnen
Werke aus sich selbst heraus zu erklären und zu würdigen bemüht ist, so wenig
kann doch diese seine prinzipiello Stellungnahme verkannt werden. Es darf
uns hier nicht beikommen, seinen Urteilen, die durch Ruhe, Besonnenheit, Reife,
Lurch Offenhcit des Blickes und künstlerisches Feingefühl sich auszeichnen, im
einzelnen nachzugehen. Es genüge, die Hauptnamen, deren Trüger er charak-
terisiert, zu nennen: Mosenthal, Prechtler, Weilen, Hamerling, Saar, Doczi,
Wartenegg, Keim, Ebner-Eschenbach. Mit ihnen sind die Studien über die
ältere Wiener Richtung abgeschlossen; es folgen die über die moderne Richtung,
in denen das literarische Jung-Wien im Ganzen mit überlegenem Urteil ge-
kennzcichnet wird und in denen fcrner die hervorragendsten Werke von Eber-
mann, Bahr, Lothar, Schnitzler, Dörmann und David sehr treffend gewürdigt
werden. Der wertvollste, sichtlich mit der größten Liebe behandelte Abschnitt
des Buches ist der über Anzengruber und das ncuere Volksstück. Namentlich
sind die Ausführungen Sittenbcrgers über Anzengrubers künstlerischen Ent-
wicklung, über den Realismus sciner Darstellung, über seine Auffassung von
Gut und Büse, über seinen Humor als den Ausdruck einer crnstcn Lebensauf-
fassung, über seine Schätzung und Charakterisierung dcr Frau außerordentlich
beachtenswert, weil sie uns ungczwungen und mit aller Kraft anschaulicher und
klarer Bcweisführung unmittelbar in den Geist dcs Dichters versetzen. Jm
ganzcn Verlauf seiner Studien abcr hült Sittenbcrgcr dcn Zusammenhang der
einzelnen Dramen mit der Bühne und ihren Forderungen und Möglichkeiten
im Auge. Der zwcite Band der Studien wird ihm wohl auch Gelegenheit
geben, sich mit dcm modernen Drama der Hauptmann und Genossen ausein-
anderzusetzen. Leonh. Lier.

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