Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 12,1.1898-1899

DOI Heft:
Heft 12 (2. Märzheft 1899)
DOI Artikel:
Avenarius, Ferdinand: Die Kunst im Reichstage
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.7957#0408

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
heit unsrer Künstler ist sich aber ganz sicher noch nicht der Aufgabe be-
rvußt, die sie mit den Denkern als Führer der geistigen Krüfte der
Nation zu lösen hätte, der Aufgabe, einen führenden Freistaat des
Geistes in Unabhängigkeit von den Mächten oben sowohl wie unten zu
bilden. Wo ist die Gelehrten- und Künstlerrepublik, von der man so
viel geschrieben hat? Seid ihr Männer, so zeigt es zunächst einmal da-
durch, daß ihr euch von all den Dingen frei macht, die nur schmeichelnde
Nichtigkeiten sind. Aber heute scheltet ihr auf die Negierung, und morgen,
wenn eine Hoheit einen Hofratstitel oder ein Ordensband vergibt, so
küßt ihr die Hand. Sie mag eine ganz vortrefflich respektable Hand
sein, aber sie gehört zu demselben Kopfe, den ihr eben erst mit vollem
Recht als urteilsunfähig in euren Angelegenheiten bezeichnet habt.
Urteilsunfähig, wenn er euch schlecht, urteilsfähig, wenn er euch dann
gut behandelt — werte Herren, das geht nicht an. Jetzt seid ihr auf
den Reichstag böse, wirft er euch Aufträge aus, so hat er plötzlich Er-
leuchtung in Sachen der Kunst. Keine Ausstellung wird bei uns eröffnet,
ohne daß ihr ehrfurchtsvoll wie einer Offenbarung den Worten der
Majestät lauschtet, die zum ersten Mal in ihrem Leben drei Blicke auf
das Lebenswerk eines Künstlers wirft. Kein Denkmal kann gesetzt werden,
ohne daß ihr irgend einen unbescholtenen Prinzen zum „Protektor" der
Sache macht. Kommt ein Minister nicht zum Festessen eines alten
Poeten, so kränkt euch das, macht man eine europäische Berühmtheit mit
achtzig Jahren zum Ritter eines Ordens, den jeder brave General mit
sechzig Jahren hat, so entzückt es euch. Das alles, während ihr ganz
genau wißt, daß jene staatlichen Autoritäten Sachverständige für euer
Schaffen nicht sind und nicht sein können, das alles also, während ihr
die Werturteile, die diesen Auszeichnungen zu Grunde liegen, als ganz
unerheblich erkennen müßt. Und ihr verlangt, daß jene Autoritäten
in der Tiefe des Herzens euch achten sollen? Achtung aber, das
gerade ist es, was wir beim Reichstag wie bei der Regierung vor allem
brauchen, Achtung vor der uns heiligen Welt, deren Thore auch den
Andern als Tempelthore erscheinen müßten, nichts als Tingeltangelthüren,
die nur der Kassierer bewacht.

„Freie Kunst und freie Wissenschaft!" — es ist eine schöne For-
derung. Jhrc Verwirklichung allein kann die Kunst und die Wissenschaft
befähigen, der Menschheit und zunächst dem eigenen Volke das zu sein,
was sie sein sollen: Führerinnen auf ihren Gebieten. Wie unbeschränkter
Führer auf anderm Gebiete der Staat sein soll. Aber in die Republik
der Geister kann nur eintreten, wer sich innerlich frei gemacht hat davon,
Autoritäten gelten zu lassen oder jnicht gelten zu lassen je nachdem,
ob sie ihm als Menschen nützen oder schaden, ob sie ihn beleidigen oder
aber ihm schmeicheln. Wer so weit ist, dem ist das Treiben im Reichs-
tage so gleichgültig wie das der Begas, Werncr und Knackfuß, er weiß,
daß die Kunst, die uns vorwärts führt, in keiner Partei gemacht
wird, oder auch in allen, wo freie Menschen sind, aber weder mit
Majestäts- noch mit Majoritätsbeschlüssen. Wer sühren will, muß die
Füße frei haben.

Lehrt dereinst eine von eisernen und goldenen Ketten besreite Denker-
und Gestalterschaar ein Volk, das die Sprache gelernt hat, in der jene
reden, dann wird die staatliche wie die reichstägliche Kunstpflegerei von

Kunstwart

ZI6
 
Annotationen