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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 22,2.1909

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Heft 11 (1. Märzheft 1909)
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Unsre Bilder und Noten
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https://doi.org/10.11588/diglit.8815#0363
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Unsre Bilder und Noten

den Blättern von Käthe Kollwitz zeigen wir heute den
1 Lesern große und ticfernste, aber zugleich auch „häßliche" Kunst.
^Kunst, wie sie ein „vorsichtiger" Rcdakteur nicht wagen darf,
einem größeren Publikum zu zeigen, Kunst, die zunächst abstößt, statt
sich einzuschmcichcln, aber auch Kunst, wie sie unser hentiger Leitaufsatz
bespricht: die „Offenbarungen der inneren Welt- und Schicksalsbewegung
vermittelt" — Kunst, die religiös wirkt. Wem die Kunst in Wahrheit
nach Goethes Wort die Sprache des Unaussprechlichen ist und wer den
Willen hat, diese Sprache nicht nur in ihren Wohlklängen mit den
äußeren Sinncn zu genießen, wcr entschlossen ist, mit seiner Seele wirklich
aufzunchmcn, was Großes sie zn sagen hat — dcr muß den Wcg auch
zu Käthe Kollwitz suchen.

Unscr erstes Bild wird auch für die meisten Glieder der kleinen,
abcr sehr bcgeisterten Gemeinde, die ihr jetzt schon lauscht, eine großc
Äbcrraschung scin — dcnn die Platte des Originals unsrer Reproduktion
ist zugrundc gegangen. Das ist sehr zn beklagen, denn die Meisterin
hat kcin innerlich größeres Werk geschaffen'als dieses. Das Wesentliche
des Gretchenmotivs, vollkommen modern, unter Verzicht auf alle Sinnen-
gcfälligkeit mit erschüttcrnder Wucht traummäßig geschaut. Die Ver-
lassene stcht auf dem schmalen Steg, der noch ihr Leben trägt, da hebt
sich ihr im unsichern Mondlichtspuk da drunten die entsetzliche Vision
aus den Tiefcn herauf.

Das zweite Blatt gibt eins aus dem neuen Zhklus vom Bauern--
kriege wicdcr. Sie stürmen die schmale Wendeltreppe empor — man
sieht nicht einzelne, man sieht nur Masse und fühlt nur Masse, fühlt
gleichsam nur eincn ricsigen Wurm von Weh und Wut, der sich unterm
Tritt des Schicksals ins Dunkel hinaufkrümmt.

Auch auf dcm drittcn Bilde, dem schon älteren und unter den Kunst-
freunden schon schr berühmten „Tanz um die Guillotinc" ist es Masse,
die wir sehn: untcrm Mißhandeln vertierte und cntmenschte Masse, deren
Frcude keine Freude ist, weil sie zur Freude nicht mehr fähig ist —
soudcrn nur ein Austoben der Fnstinkte. Wie zum Himmel getürmtes
Elend, das jcden Augenblick hereinbrechen will, schauen die Häuser zu.*

* Änser Stcindruck gibt diese Gesamtwirkung vortrefflich wieder, ist
aber in einigcn Einzelheiten mangclhaft. Gcradc weil sehr viel Mühc
auf ihn verwendet werden mußte, um das düstre Blatt würdig wieder-
zugeben: die photomechanischcn Hilfsmittel vcrsagten, und so mußte bei
dcn verschicdenen Plattcn die zcichnende Hand nachhelfen.

>. Märzheft chvst 309
 
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