Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,1.1909

DOI Heft:
Heft 1 (1. Oktoberheft 1909)
DOI Artikel:
Avenarius, Ferdinand: Unsre Arbeit fürs Ganze
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.8818#0015
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Iahrg. 23 Erstes Oktoberheft 1909 Heft 1

Llnsre ArbeiL fürs Ganze

egel, heißt es, habe gescherzt: mich^hat nur einer verstanden,
M^und der hat mich mißverstanden. So geht's bei den Grojzen.
^X Denen vom Mittelmaß geht es so: rufen sie mal anderer Leute
Gedanken von der Landstraße weg, so laufen diese doch immer wieder
dahin zurück, wo's kahl, aber eben ist. Man lockt sie nochmals her,
wo's keimt und blüht — sie fühlen sich doch wieder im alten Weg-
staube wohl. Die Psychologen wissen, warum: jeder Gedanke strebt
zum gebahnten Weg. Amd wenn der auf einen Fluß ginge, wo
früher vielleicht eine Brücke stand. And wenn er in einen Sumpf
ginge. Ach, daß die Gedankenrufer, die Worte, Fäuste hätten zum
festhalten! Nun haben sie nicht einmal Gesichter, deren Ausdruck ein-
deutig ist. Wie viele haben schon geseufzt: daß die Worte Münzen
wären unabgreifbaren Geprägs, unverkennbar nach Gehalt und Wert
und immer gleich im Kurs! Aber die gibt's ja nicht einmal aus Erz,
und gäb es sie, das Lrz selber schwankt ja im Wert. Organisches
wächst, altert, stirbt, und vom Luftigsten im Organischen, vom Wort
lassen sich zudem fürs Papier ja nur die Schatten fangen, die
schwarzen Buchstabenbilder da ohne den Ton. Also: werden wir
mißverstanden, so können wir nichts dagegen tun, als immer wieder
neue Schattenrisse zeichnen nach den singenden, pfeisenden, trillern-
den oder krächzenden wegfliegenden Wortvögeln in der Luft.

Wie oft, ein Beispiel zu nehmen, spricht man ohne viel einzu-
schränken von „Kunst", und wie verschieden ist doch, was man
dabei denkt. „Kunst ist schwer," sagt der eine, „vor Kunst setzten die
Götter den Schweiß!" „Der hilft dir nichts," antwortet der Nachbars-
mann, „hast du kein Talent, so glückt sie dir nie, hast du's aber, so ist
sie leicht." „Wir brauchen sie gar nicht," meint des Stammtischs
dritter, „die viele Kunst verdirbt die Natürlichkeit." Das Lrgert den
vierten: „Gerade als die Völker noch natürlich waren," ruft er,
»bildeten sie alles um sich mit Kunst!" „Es muß die echte Kunst
sein", beschließt der fünfte. Nnd keiner von ihnen merkt, daß ein
jeder das Wort in anderem Sinne gebraucht hat. „Kunst" kann ja
bedeuten erlerntes Können und angeborne Fähigkeit, kann bedeuten
Gegensatz zur Natürlichkeit und Ausfluß von ihr, und zehnerlei bis
hunderterlei noch, und die echte ist immer die, die der Herr Sprecher
mag.

Darum, sagten die Männer, die vorwärts wollten, holen wir uns
ein Wort von den Alten her, das nicht angezogen ist mit so viel
verschiedenen Röcken: sprechen wir nicht von künstlerischer, sondern
ästhetischer Kultur! Aber „ästhetisch", das reimt sich auf Tee-
tisch, und schon deshalb erging's ihm in Deutschland übel. Andern
schien's wieder nach sehr gesüßter Limonade zu schmecken. Dritten
sah's nach gepufften Krawatten und Glockenröcken, und nach denen,
die sich ausleben wollen, vierten nach alleinseligmachender Farb-
gepünkteltheorie, den allermeisten jedenfalls sah's nach den Leutlein

i- Oktoberheft G09 l
 
Annotationen