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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,1.1909

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Heft 3 (1. Novemberheft 1909)
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Lose Blätter
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.8818#0233
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Allgemeineres

meiner kleinen Shbaritin durchaus nicht glich, denn sie war bescheiden
nnd äußerte sich fast nur in ernsten, verständnisvollen Blicken, im leisen
Drucke der Hand und in einem innigen und ruhigen Worte voll Sicher-
heit und Vertrauen. Keine Leidenschaft schien uns zu berühren, wir
hielten einander, als hätten wir uns seit Iahren geliebt und besessen,
und erst als ich eine deutliche Werbung aussprach und Benedikten bat,
mich zu ihrer Mutter zu führen, verwirrte sich ihr Wesen ein wenig,
sie schauerte leicht zusammen, preßte sich fester an mich und fragte ver-
wunderlicherweise, was sie längst wissen mußte: „Hast du mich denu so
lieb?" Ich küßte sie auf die Stirne und sagte: „Wie lieb, das sollst du
erst noch sehen!" Worauf sie immer noch ein bißchen konfus crwiderte:
„Das habe ich dir gar nicht angemerkt." — „Ich dir auch nicht," gab ich
froh zurüch „aber haben wir es nicht trotzdem vom ersten Tage an ge-
wußt?" Aud ganz im Tone ihrer altcn Frische und Unbefangenheit gab
sie fröhlich zu: „Natürlich!"

Nundschau

Man geniert sich

^n einer kleinen Sommerfrische
<)ward ich einmal Zeuge eines
sehr ungewöhnlichen Auftritts. Ich
kam die Grundstraße daher, als
mich Kindergejohl auf ein seltsames
Paar aufmerksam machte. Ein alter
betrunkener Sünder war hingefal-
len, hatte sich den Kopf blutig ge-
schlagen, nicht mehr weiter gekonnt,
hatte nun die Kinder angebettelt,
ihn doch nach Hause zu bringen,
und war darauf von groß und klein
unter Hallo verspottet worden.
Da hatte eine junge Städterin das
widerlich-jämmerliche Ärgernis im
Straßenkot bemerkt — als ich dazu-
kam, sah ich diese Dame, die ich
als das Musterbild der Zurückhal-
tung kannte, unterm Auflauf der
Heimischen und Fremden den
schmutzigen alten Trunkenbold nach
seiner Behausung führen. Schon
den Ausdruck der streitenden Ge-
fühle auf ihrem Gesicht wcrde ich
nicht vergessen; ich habc niemals
wieder die Selbstüberwindung aus
Pflichtgefühl bei einer kleinen Sache
so verkörpert vor mir gesehn.

Im allgemeinen „geniert" man
sich. Man sieht ein verhungertes

Kind vor sich auf der Straße, gäbe
man ihm Geld, so würd es das
währscheinlichvernaschen.manmöchts
ihm ein ordentliches Essen ver-
schaffen — aber welch Aufsehen,
wenn man's mit in eine Wirt-
schaft nähme! Ieder kennt aus
seiner Erfahrung Dutzende ähn-
licher Fälle. Es sind immer Klei-
nigkeiten, um die sich's da handclt,
bei wirklichen Anglücksfällen greift
man vorläufig schon noch zu. Es
ist die Scheu, aufzufallen, die uns
von kleinen Hilfeleistungen abhält.
„Man sieht dich so an", wenn du
der alten Frau dort hilfst, den
Korb auf den Rücken zu nehmen,
dem Krüppel dort, über die Straße
zu kommen, den Pferden dort,
ihren schweren Wagen anzuziehn.
Man scheut sich, irgend ctwas
anders als all die andern zu
machen. Von der Mode bis ins
Ethische hinein.

Die Welt wäre auch noch nicht
vollkommen, wenn's in diesem
Punkt besser stände. Aber ich
glaube, man sollte das Sich-genie-
ren nicht gar so willfährig gelten
lassen. Das Auffallen zum Bei-
spiel durch die Tracht wird von

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Kunstwart XXIII, 3

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