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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,1.1909

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Heft 3 (1. Novemberheft 1909)
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Avenarius, Ferdinand: Briefmarken sind keine Kleinigkeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.8818#0194
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Iahrg. 23 Erstes Novemberhest 1909 Heft3

Briefmarken sind keine KleinigkeiL

er deii Pfennig nicht ehrt, ist den Taler nicht wert — das
^^H^heißt, anf Knlturpolitik angewandt: ein Volk, das seine

kleinsten und alltäglichsten Leistungen für gleichgültig hält,
kommt auch nicht zur bestmöglichen Gestaltung seiner großen. Denken
wir an Ausdruckskultur: nur die Bodenwüchsigkeit sichert ihr ein
allgemeines Gedeihen, Bodenwüchsigkeit aber ist unmöglich, wenn
die kkeinsten Saugwürzelchen verkümmern, durch die der Saft steigt.
Das vorige Iahrhundert hat diesen Satz praktisch bewiesen, daß es
zum Schaudern ist. Die alten Bauernhäuser durchs ganze deutsche
Land, vor deren gewachsener Schönheit wir jetzt die Augen anf-
sperren, die Bürgerhäuser noch aus der Biedermeierzeit, denen wir jetzt
da und dort bis zu dem demütigsten Bekenntnis der eignen Minder-
wertigkeit, dem bloßen Nachahmen huldigen, sie trugen ein-
mal auch die hohe Kunstkultur, trugen einen nationalen Bau, der
vom Keller bis zum First gleich im Wesen war und ohne Bruch.
Bis die Ideale zur Herrschaft kamen, die siebenmal Gescheite mög-
lichst weither geholt hatten. Da kümmerte man sich ums Erdgeschoß
nicht mehr, glaubend, man könne vom ersten Stock an aufwärts
bauen, wenn der erste Stock nur wirklich eine „Beletage" war. Die
Vorbilder hatte man ja vor Augen: Frau Fata Morgana malte
sie im Süden in die Luft. Frau Fata Morgana narrte mit der Zeit
auch die, so noch fest auf der Erde standen: auch in Dorf und Klein-
stadt ging das vornehm tuende Bauen los, die Vorstadt-Zinsvillen
zwischen dem alten Bodenständigen zeugen davon. Frau Fata Mor-
gana führte ihre Anbeterschast durchs ganze Land irr. Als eine
Kunst, die „hohe" Kunst schien, dieweil sie ja die Augen ini Dunst
und die Füße auf Stelzen hatte. Mit dem Boden nicht mehr ver-
bunden, als einer, der Stelzen läuft.

„Aber wir haben doch trotzdem immer eine große Kunst gehabt."
Ach ja. Mit einsm rechten Talent geht's wie nach Storm mit einem
rechten Herzen: es ist gar nicht umzubringen. Aber man fragt doch
allerhand, wenn man bedenkt: daß alle unsre großen Talente anf-
gewachsen sind unter Opposition. Zugegeben: die kann wie ein
Widerstandsapparat die Kräfte stärken. Lebensmöglichkeit zum min-
desten brauchen aber doch alle, und je mehr davon da ist, je ge-
sünder nicht nur, nein, auch je zahlreicher wachsen sie man denke
an nnser neues Künstlerhandwerk, das mit dem Siege der neuen
Bewegung Talente wie Pilze aufschießen ließ. Und dann: die wenigen
Zähesten wurden vom Ganzen nicht ausgenützt, ihnen fehlten die
öffentlichen Aufgaben. Hat Böcklin, hat Feuerbach, hat Leibl der
Begabung entsprechende erhalten? Hat man sich an Uhde, Thoma,
Steinhausen in Zeiten ihrer jungen Kraft gewandt? Sffentliche Auf-
träge sind aber nicht nur fiir das Weitergedeihen der Künstler, sie
sind auch deshalb wichtig, weil sie am stärksten in der Allgemeinheit
wirken.

l- Novemberheft Md löS
 
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