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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,1.1909

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Heft 1 (1. Oktoberheft 1909)
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Avenarius, Ferdinand: Unsre Arbeit fürs Ganze
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Batka, Richard: Zur Naturgeschichte des Volksliedes: auch eine Übung im Betrachten von Kunstwerken
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https://doi.org/10.11588/diglit.8818#0022
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Das verstehn wir an dem Tisch mit den Töpfen nicht, dazu müssen
wir ins Freie. Die Zusammenhänge gehören dazu, und es hängt
ja im Leben so ziemlich alles zusammen. Nicht, daß wir alles einzelne
in jeder Einzelursach erkennen müßten: ich verstehe schon, warum das
Blatt da fällt, auch wenn ich nicht millimeterweis die Kräfte nach-
rechnen kann, die dieses Zickzack durch die Luft zeichnen lassen. Im
Gegenteil: wir brauchen dringend das Abkürzen all der Kenntnis-
Nnmengen, und gerade dem soll durch Heraushebung des Wesent-
lichen auch unsre Arbeit dienen. Nicht die Aberfülle der Einzel-
heiten zu sehn, erstreben wir, sondern das Ganze zu sehn als eine
Einheit, um aus unsre Weise dem Ganzen dienen zu könneu. A

Zur Naturgeschichte des Volksliedes

Auch eine Äbung im Betrachten von Kunstwerken
ie schöne tzarmonie von Wort und Weise, die in den Gesängen
^-H^unsres Volkes herrscht, hat jeder, der ihnen aufmerksam lauschte,
schon empfunden, ohne daß man sich über den Grund dieser
merkwürdigen Lrscheinung bisher im klaren wäre. Wie kommt diese
Einheit des dichterischen und musikalischen Ausdrucks zustaude, uach
der die Kunstmusik so oft vergebens strebt? Daß Dichter und Kom-
ponist des Volksliedes nicht selten eine und dieselbe Person ist, genügt
wohl nicht, um die Tatsache zu erklären. Viele Volkslieder werden ja
gar nicht auf Originalweisen gesungen, sondern auf Melodien, die älter
sind als der Text, und doch auch hier in den meisten Fällen diese
ungezwungene, künstlerische Äbereinstimmung der Elemente! Wieso?
Woher? Ich meine nun, die Ursache in der eigentümlichen Technik unsrer
redenden Volkskunst zu finden und möchte sie an einem Beispiel, an
dem Lied von den zwei Königskindern aufzeigen.

Das Volkslied geht bekanntlich immer vom Wort aus. Die Musik ist
ihm bloß ein Mittel des Ausdrucks, das hinzutritt, um den Ausdruck zu
verstärken. Der Dichter hat ganz einfach, erzählend begonnen:

Es waren zwei Königskinder,

Die hatten einander so lieb.

Sie konnten zusammen nicht kommen —
und spricht zuletzt das tragische Moment der ganzen Ballade aus:
Das Wasser war viel zu tief.

Die Musik folgt nun diesem Gedankengang Schritt für Schritt, indem
sie auch den Ausdruck der berichtenden Zeilen noch differenziert. Die
erste Zeile ist schlicht, episch gehalten:

^-Z

K


ss

wa - ren zwei Kö - nigs -- kin » der

Die zweite steigert dieses Motiv, indem sie das Intervall erhöht imd
die Phrase über den Septakkord der Tonart spannt. Man spürt deut-
lich den stärkeren Gefühlseinschuß, den sie dadurch erhält.




Die hat - ten ein » an - der so

lieb.

Kunstwart XXIII, l
 
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