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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,1.1909

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Heft 4 (2. Novemberheft 1909)
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Lose Blätter
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.8818#0310
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fachere Angelegenheit sein. Er fror, er mußte wohl wieder ein wenig
gehen, er wollte sich crheben; aber die Berne trugen ihn nicht. Er
streckte die langen Arme aus, als wollte er in den Sonnenschein hinein-
greifen, und sein Gesicht nahm einen ärgerlichen, angstvollen Ausdruck
an, dann fiel er zurück, wurde ganz still, sank in sich zusammen, cin
wenig schies über die Seitcnlehne der Bank hin, in jener müden Be-
wegung, die der erste Augcnblick des Todes dem Menschen gibt, bevor
die kühle Strenge kommt. Die Sonne stand schon tief und badete die
schweigcnde Gestalt in rotes Licht, ein leichter Wind bewegte ein graues
Haarbüschel an dcr bleichen Schläfe, die große Mücke flog wieder schnur-
rend zurück an der jetzt regungslosen weißen Nase vorüber. Ringsnm
fielen die reifen Früchte schwer in den Rasen und licßen für einen
Augcnblick das Wetzen dcr Fcldgrillen verstummen. Drübcn abcr unter
dem Birnbaum saß Billh, schaute mit fieberblanken Augen in die Abend-
sonne und lächelte noch immer ihr erwartungsvolles, verlangcndes Lächcln.

Rundschau

WiffenschafL und Bildung

/^ind Wissenschaft und Bildung
>^nicht eigentlich dassclbe? Wenn
sie es nicht sind, hängen sie nicht
so cng zusammen, daß eine ohne
die andre nicht zu denken ist?

Wir meinen, keinc der beiden
Fragcn kann bejaht wcrdcn.

Der Begriff der Bildung hat
von jeher die Köpfe der Besten
erfüllt und sie zu Nachdcnken
und auch zu öffentlichem Auf-
treten angeregt. Goethe, Schiller,
Herder, Fichte, Ioh. Eduard Erd-
mann, Nietzsche und viele andre
unsrcr besten Geister haben für
ihn ihre Persönlichkeit eingesetzt.
Bildung unterscheidet sich von
andern seclischen Eigcnschaften da-
durch, daß sie nicht einen Teil des
menschlichen Wescns bctrifft, son-
dern sein Ganzes. Sie ist im
Grunde überhaupt keine Eigenschaft,
sondern eine Form, die Form, wic
ein Mensch sich gibt und wie
er ist. „Es gibt zwci Ideale
unsres Daseins: cinen Zustand der
höchsten Einfalt, wo unsre Bedürf-
nisse mit sich selbst und mit unsern
Kräften und mit allem, womit
wir in Verbindung stehen, durch !

2. Novemberhcft OOH

die bloße Organisation dcr Natur,
ohne unser Zutun, gegenseitig zu-
sammenstimmen, und einen Zu°
stand der höchsten Vildung, wo
dasselbe stattfinden würde bei un-
endlich vervielfältigten und ver-
stärkten Vedürfnissen und Kräften,
durch die Organisation, die wir uns
selbst zu geben imstande sind. Die
ex-entrische Pahn, die dcr Mensch,
im allgemeinen und einzclnen, von
einem Punkt (der mehr oder weni-
ger reinen Einfalt) zum andern
(der mehr oder weniger vollende-
tcn Bildung) durchläuft, scheint
sich, nach ihren wesentlichen Rich»
tungen, immer gleich zu sein." Wir
meinen, diese schöncn Worte Höl-
derlins treffen recht eigentlich das
Wesen der Bildung. Sie hat also
zur Voraussetzung, daß der Mensch
zum mindesten eine Zeitlang sich
selbst glcichzeitig Objekt und Sub-
jekt- war, daß er sich mit sich und
der Welt von Natur und Kultur
in lebendige Beziehung zu bringen
suchte. Diese lebeudigen Beziehun-
gen, die geistige und gefühlsmäßige
Tcilnahme kann sich nun nach un°
endlich vielen Seiten richten. Da
^ eröffnen sich dem einzelnen zahl-

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