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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,1.1909

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Heft 1 (1. Oktoberheft 1909)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.8818#0045
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Rundschau

MiLleiden und Mitleideln

ie bestürmen mich die Werke
mcines toten Freundes leben-
dig, jeht noch, seitdem er längst
von der Erde ging! Und wie
steht sein Bild mir bezwingend
vor der Seele, wo ich seinen Leib
machtlos im Vergehen weiß! Er
ist gestorben und ist doch nicht ge-
storben. Die mit mir seine Ieit-
genossen sind, wissen, daß er so
groß ist, daß der Tod ihn nicht
auslöschen kann. Neben der Bahre
sahen sie ihn selber stehn. Mit
einem Willcn, noch jetzt stark ge-
nug, sie alle zu bezwingen, die
um ihn standen, so daß sie zitter-
ten in Liebe und Ehrfurcht.

Aber es waren auch solche unter
ihnen, die nur einen willenlosen
Leichnam sahen, und den bemit-
leidelten sie. Sic bemitleidcltcn
nun die Person, die das Sterben
unter sie in die Erde hinabdrückte.

Bei welches Großen Erdenabschied
spiclt sich das nicht ab? Die
wcnigsten lciden, die andern lei-
deln. Die Kritik verstummt; aus
dem Selber-mit-Leiden, daß diess
Eröße von uns mußte, oder aus
Mitleidcln über die gebrochene
Größe, von der sie meincn, sie
läge nun machtlos da? Die Ver-
himmclung schäumt übcr, sie tun
von sich hinzu, daß er noch größer
aussehe, von ihrem kleinen Sich!
Um dem Heimgegangenen gutherzig
einen möglichst glanzvollen Ab-
schied zu bcreiten. Sie häufen
so viele Worte über sein Grab,
als wollten sie ihm dahinein
alle mitgeben, die sie überhaupt
noch übcr ihn zu sagen haben.
Und sinden diese Worte schnell.
Sie sorgen, ja die ersten zu sein,
die ihm alle seine Größe und seine
Güte nachrufen. Sie meinen's

ganz gewiß nicht schlecht. Und
doch ist's, als wollten sie dem
Knochenmann seine Arbeit voll-
enden, indem sie auch die Seele
da absterben lassen, seine Seele,
die sie zum Phantom verwandeln,
nach dem Ebenbild ihrcs phantom-
haften Mitleidens. Sie entkleiden
sie von ihren Schwächen und ent-
stellen sie, sie nehmen also, sie töten
also von ihr, indem sie ihr An°
sterblichkeit zusprechen.

Wer sich trotz all seiner Schwä-
chen im Leben Größe errungen
hat, warum sollte dessen Größe
die Schwächen nicht tragen kön-
nen? Warum sollte sie die Kritik
nicht aushalten? Wer wciter unter
uns bleibt im Geiste, dcr bleibt
wie er war. Man bessere und
bästele nicht nachträglich an dem
Menschen herum, der einmal in
diesem Leibe da lebte. Man
fälsche ihn nicht.

Hüten wir uns aber vor dem
Mitlcideln auch bei den Leben-
den! Vieles kommt ärmlich da-
her und ist doch im Innern reich.
Das Mitleid, das beim Anblick
einer mangelhaften Gewandung
klagend und erbarmend den Kopf
schütteln macht und den abwehren-
den Stolz dcr Persönlichkeit, die
darin steckt, nicht auf sich fühlt,
das i st Mitleideln, das nicht weiter
als bis zur Oberfläche sehcn kann,
ganz nach seinesgleichen Herkunft.
Kleinlich ist es und anmaßend,
wie das Mitleid altersschwacher
Tanten, die sich um cinen Lieb-
ling besorgen, bcr seinerseits mit
Kreuzfidelität oder mit Mannes-
ernst durchs Feuer des Lebens
geht. Mitleiden tröstet und er-
quickt, Mitleideln beleidigt, weil
es immer an äußern Fetzen hän-
genbleibt und nie zum Ich dringt.

l- Oktoberheft IA09 2s

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