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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,1.1909

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Heft 4 (2. Novemberheft 1909)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.8818#0342
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Ausbildung der Gesarutpersönlich-
keit. Und die Zahl derer, die von
vornherein auf dicse Ausbildung
verzichten, ist in den letzten Iahr-
zehnten auch um so mehr gestiegen,
je größer die Zahl der Studenten
überhaupt wurde. Hier liegt ein
Problcm,* liegt vielleicht das zen-
trale Problem des akademischen
Lebens. Nun, die freistudentische Be-
wegung „hat erkannt, dah durch
die gemeinsame, frciwillige Arbeit
der Gesamtheit diese Lücke der
tzochschul-Organisation ausgcfüllt
werdcn kann". „Wenn in ständiger
gegenseitiger Anregung und Ar°
beitsteilung die sämtlichen Gebiete
menschlicher Betätigung in regem
Wechselvcrkehr der Studenten wäh-
rend dcr ganzen Studienzeit durch-
lebt werden, wcnn die verschie-
denartigsten Meinungen auf allen
Gebieten sich auf diese Weise im
Kampf der Ideen durchdringen, so
kann sich die Basis ausbilden, auf
der das Bildungsproblem zu lösen
ist." Die freic Studentenschaft bil-
det eine Neihc von „Abteilun-
gen", in dencn die verschiedensten
Gegenstände behandelt werden in
Vortrag und Diskussion. So Ab-
teilungen für Kunst, Litcratur,
Staatswissenschaften, Philosophie,
verschiedene Sports und Spiele.
Ieder hat das Necht zur Teil-
nahme. Was man auf den ein-
gcschlagenen Wegen erreichen kann,
ist meincr Ansicht nach nicht etwa
Geriuges. Es ist Anrcgung, den
Blick auch über Buch und Studier-
zimmer hinauszulenken auf dies
oder jenes entlegene Land des Gei-
stes und der praktischen Arbeit.
Wer da meint, dazu böten die ver-
schiedenen Vorlesungen einer Hoch-
schule, weil sie einem jeden offen-
stehen, schon genug Gelegenheit,
vergißt eins: von hundert Studcn-

* Der Leitaufsatz dieses Heftes
spricht näher davon. K.-L.

ten, die auf einer Universität zu-
sammen sind, ist höchstens in einem
Dutzend das Bcdürfnis nach dieser
Anregung wach; wenn es ihnen
von einem frischen, willigen Kreis
von Studenten geweckt wird, so
kann das kaum schadeu, aber ge-
wiß viel nützen. Aber die freie
Studentenschaft irrt doch wohl,
wenn sie glaubt, die Basis zur
Lösung dcs Bildungsproblems
auf diesem Wege zu schaffen. Bil-
dung und Anregung verhalten sich
ja ungefähr zueinander wie ein
Tanzengagement zur Ehe oder wie
die Reflexionsbewegung zur Schau-
spielkunst. Bildung, zu deren Vor-
aussetzungen unsres Erachtens blick-
freie Vorurteilslosigkeit gehört, be-
trachteu wir als ein Gut, um das
Menschen mit heißem Bemühen
ringen müssen, das aber mit un-
gebundener Hin- und Widcrrcde
am abendlichen Tisch oder an Vor-
tragsabenden wcnig zu tun hat,
mögen sie immerhin von den gebil-
detsten Dozenten, Literaten, Künst-
lern, Politikern, vielleicht sogar in
lehrhafter Weise gehalten werden
und in andrer Beziehung noch so
nützlich sein. Zwar, ein im Wider-
streben der Geister auf tiefere Gründe
führendes Wortgefecht, ja, solch
eine Diskussion kann auch bil-
dend sein. Aber solch eine Dis-
kussion und Durcheinanderreden
sind zweierlei Dinge, zu viel mehr
jedoch kann es kaum kommen, wo
der Grundsatz absoluter Bewe-
gungsfreiheit für den einzelnen
unter jungen Leuten betätigt wird.
Die sogenannte „Freiheit" der De-
batte erscheint in der Praxis mei-
stens einfach als Disziplinlosigkeit
des Geistcs. Diskussion zum Zweck
der Bildung ist eine Kunst, deren
neunzehn-, zwanzig-, einundzwan-
zigjährige Iünglinge sich wohl nur
selten bcmächtigt haben könncn.
So jugendliche Geister üben sich

2. Novemberheft iAOH 2Z3
 
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