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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,1.1909

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Heft 6 (2. Dezemberheft 1909)
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Avenarius, Ferdinand: Weihnachten
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https://doi.org/10.11588/diglit.8818#0455
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,Gefühl ist alles", auch des Goetheschen Fausts Bekenutnis war kein
Bekennknis irgendwelchen bestimmten Glaubens, auch nicht eines pan-
theistischen, war nur Bekenntnis eines Gefühls. Eines uralten
Menschenerbes an Gefühl aus all den Ahnengeschlechtern seit ihres
ersten Seelenmorgens Erdämmerung. Lines Gefühls-Erbes, das eben
seines Uralters wegen so unausrottbar lebt, daß es, wie die L^ind-
heitserinnerungen im Greis, das letzte Lebende noch ini Veratmenden
sein wird.

Das religiöse Gefühl kann nie am Sterben sein. And gar in
unsrer Zeit! Wir, die wir diese Blätter schreiben und lesen, wir sind
wohl von dem Verdachte frei, blinde Preiser der Gegenwart zu
sein: schälte uns wer dauernde Nörgler, wir begriffen's eher. And
dennoch verläßt uns nie und nimmer das sieghafte Gefühl: uns
hilft die Zeit. Ans in unserm Kreise allein? Verbitterte gibt es
heut wie je, auch grundehrliche, auch tieftüchtige Menschen, aber ich
glaube: Verzweifelnde gibt es heute weniger, als in manchem
Iahrzehnt vorher. Ich meine: Verzweifelnde, weil ihr Glauben an
eine große Idee ihnen hoffnungslos scheint. Verzweifelnde, weil sich
im Draußen nichts in ihrem Sinne bewegen will. Es geht ein Auf-
horchen auf Edles durch die Welt. Ein Sich-Besinnen, ob man
den Gedanken Verkörperung geben darf und kann. Äberall ein Ge-
fühl von der Macht der Idee. An tausend Orten mehr als ehedem
schon der Wille zur Tat. Und wie erste Kristalle in der Lösung
da und dort schon sie selbst, die Tat.

Dächt ich an unser engeres Gebiet allein, ich könnte immer nur
wieder bitten: vergleicht das Iüngst mit dem Ietzt, wenn ihr verzagen
wollt. Verzagen sollten wir in einem Kampf, bei dem man's beim
härtesten Gegner fühlt, wie er besorgt nach Stützen sucht, um sich
zu halten, und wo er noch nicht weicht, doch keinen Schritt vorwärts
kommt, es sei denn, sein Nebenmann wiche dafür schon drei zurück?
Aber das ist ja das schönste, daß es beinah schon Torheit geworden ist,
von „unserm engern Gebiet" überhaupt zu sprechen, daß wir gar
nicht mehr in einem abgesonderten Geistweltgebiete hausen. Daß man
uns die Hand reicht rechts und links, wie wir sie strecken dürfen nach
links und rechts, weil man in Kunst und Wissenschaft, in Technik
und Gewerbe, im theoretischen und praktischen Leben, weil man in
der ganzen Kultur unsrer Zeit die Zusammcnhänge zu fühlen be-
ginnt. Die Leute, die „Asthetik" treiben, ohne sich um das Leben rings
zu kümmern, werden fast schon zu komischen Figuren, wie die Ver-
standesleute, die mit dem Verstande allein die Lebensbetätigung
der Kunst betrachten. Das Spezialistentum zieht sich in seine aka-
demischen Burgen zurück und wird selbst dort schon bedroht. Der
Theoretiker verbündet sich minder selbstbewußt als ehedem mit dem
Praktiker. Der Praktiker aber hört mehr, als er's seit Menschenge-
schlechtern getan hat, auf die leise oder laute Rede des sozialen
Gewissens. Man braucht nur an unsre Gesetzgebung zu denken,
um dieses an der Arbeit zu sehn, auf seine Erfolge, wo es siegte, auf
die Erregung im Streite und nach dem Streit, wo es zunächst noch
unterlag. Irren wir, wenn wir glauben, daß sich im sozialen Ge-
wissen ein gut Teil des gemeinsamen religiösen Gefühls unsrer Zeit


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