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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,1.1909

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Heft 6 (2. Dezemberheft 1909)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.8818#0523
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Väter und Mütter und zum Teil
wir selbst noch in uusrer Iugend
zum Christbaum hatten, nicht recht
einstellen. Und also mus; die
Ursache dieser Erscheinung noch
anderswo liegen.

Nach unsrer Meinung liegt
sie — auf wirtschaftlichem Gebiete.
Die ökonomische Entwicklung, die
auf Verhältnisse nnd Menschen
stetig umgestaltend wirkt, hat auch
den Charakter des Christbaums und
sein Verhältnis zu uns durchaus
verschoben.

Als er allgemeiner aufkam, war
die Zeit der Sl-, als er sich noch
in allen Ehren hielt, die der Pe°
troleumlampe. Einsam und trüb
brannte ihr Licht in den Wohn-
stuben der Familien, in deu nied-
rigen Ränmen der Gasthäuser, in
den kleinen Läden und Schau-
fenstern der Verkäufer. Die Minter-
nacht war zu ihrer Zeit noch nicht
überwunden, nur eben erst erträg-
licher gemacht. Dazu kam die
Einfachheit aller andern Lebens-
verhältnisse. Einfach und beschei-
den die Ausstattung auch der „gut"
bürgerlichen Wohnungen; wenig
Schmuck; einfach, wenn überhaupt
vorhanden, auch die Ausstattung
der Schaufenster der Kaufleute nnd
Handwerker. Menn damals Weih-
nachten kam, zog der Christbaum
in die Mohnungen der Menschen
ein wie ein König des Lichts und
des Glanzes. Anstatt der einzigen
Petroleumlampe war nun ein
ganzer Baum voll Lichter, wo-
möglich gar noch aus edeln duf-
tenden Wachskerzen; Schaumgold
und Schaumsilber an Nüssen und
Äpfeln, Sterne, Ketten und sonstige
Gemächte aus Gold- und Silber-
papicr, meist eignes Fabrikat und
Produkt des „Hausfleißes", er-
höhten das Flimmern und den
Lindruck der Pracht, die sonst den
Mänden dieser Räume fremd war.

Flitter war auch damals an und
um den Baum, aber einheitlicher,
weniger aufdringlich, naturhafter
und darum doch geschmackvoller.
Lr störte auch den ästhetisch Ge-
bildeteren dainals nicht, weil die
Gesamtwirkung des Christbaums
eine durchaus eigenartige und un-
vergleichliche, im Kreislauf des
Iahres und der Dinge nur ihm
zukommende war. Das Entschei-
dende war der Gegensatz zwischen
dem strahlenden Licht des Baums
und der trüben Beleuchtung sonst.
In diesem Kontrast beruhte das
Geheimnis der Wirkung des Christ-
baums auf die Menschen jener
Zeit; hieraus erklärte sich dcr Zau-
ber des Außerordentlichen, Fest-
lichen und Munderbaren, den er
in den Augen aller, hoch und
niedrig, damals hatte.

Alle diese Verhältnisse haben
sich nun, wie jedes Kind weiß, in-
folge technischer und ökonomischer
llmwälzungen, heute grüudlich gc°
ändert. Wenigstens das Bürger-
tum in Dcutschland ist im Ver-
gleich zu ehedem sehr viel reicher
an Lußeren Gütern gewordcn.
Selbst einige oberste Schichten der
Arbeiterklasse haben schon ein
wenig Teil erhalten an einigem
Komfort des Bürgertums. Die
Wohnräume sind höher, heller,
stattlicher geworden; die alte Ein-
fachheit ist längst aus ihr geflohn.
Schmuck und allerlei Pracht ist,
ob in Schönhcit oder Häßlichkeit,
reichlich in den überladenen Zim-
mern da. Doppclt und dreifach
aber gilt das alles von den heuti-
gen Verkaufsläden und den meisten
öffentlichen RLumen, in denen sich
das Leben dcr Menschen von heute
zu einem großen Teile abspielt,
sei es, daß sie als Arbeitende und
Angestellte, sei es, daß sic als
Besucher, Käufer, Gäste sich darin
bewegen. Alle Güter dcr Welt

^2 Kunstwart XXIII, 6
 
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