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Deutscher Altphilologenverband [Hrsg.]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 28.1985

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Nr. 2
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Aufsätze
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Westphalen, Klaus: Latein an Gesamtschulen, [3]: hinein in die Sackgasse
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https://doi.org/10.11588/diglit.33085#0051

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gemacht, indem diejenigen, die über bessere Vokabelkenntnisse verfügen, mit einem Lexikon ar-
beiten, die über mittlere Vokabelkenntnisse verfügen, zum Lexikon ein Blatt mit Bedeutungsan-
gaben erhalten, die wenig Vokabelkenntnisse haben, alle Bedeutungen auf einem Blatt nachle-
sen können. Ebenso ist mit den Kenntnissen aus der Formenlehre zu verfahren ... Zum dritten
werden auf einem Informationsblatt allen Schülern Angaben zur Situation gegeben ... Die drei
Formen der Informationsübermittlung geben allen Schülern die Möglichkeit, Zugang zum Text
zu finden.« (S. 3)
In der Tat ist in diesem Unterrichtsprogramm Cicero nicht mehr das Maß aller Dinge.
Was aber dann?
»An dem Text wird auch deutlich, wie problematisch historische Überlieferung ist, wie einseitig
auf die Seite der Gewinner bezogen, wie belastend für die Verlierer... Wenn Lateinunterricht so
betrieben wird, entspricht er dem, was in der Gesamtschulerziehung als Ziel gesetzt ist« (Riedel
S. 4)
Vielleicht ist es ganz und gar unnötig, meine Bedenken zusammenzufassen; die zitier-
ten Texte sprechen für sich selbst. Da ich aber meine, daß das Thema »Latein an Ge-
samtschulen« nicht nur das Interesse von Fachleuten verdient, sondern als ein exem-
plarischer Fall gegenwärtiger Pädagogik betrachtet werden kann, seien zur Fortfüh-
rung des Diskurses einige Thesen vorgetragen.
1. Das von Riedel entwickelte Unterrichtskonzept ist m. E. weder »Lateinunterricht«
noch »Altertumskunde« (Brandes), sondern die Unterwerfung einer Quelle und der
sich mit ihr beschäftigenden Schüler unter zeitgenössische politische Tendenzen.
2. Wenn die Schüler, »die wenig Vokabelkenntnisse haben, alle (kursiv von mir, K. W.)
Bedeutungen auf einem Blatt nachlesen können« und wenn ebenso mit der Formen-
lehre verfahren wird, wird ihnen der Verzicht auf wirkliche Sprachkompetenz sehr na-
hegelegt. Hier sind wir dann mit dem Latein am Ende! Dafür ein »Latinum« zu fordern,
kann nur als blanker Hohn aufgefaßt werden.
3. Am schlimmsten finde ich — als Erziehungswissenschaftler — den pädagogischen
Etikettenschwindel. »(Die Schüler) erarbeiten selbständig (kursiv von K. W.) ein Ver-
ständnis des Textes und des Zusammenhangs, in dem er steht« (Riedel S. 3). Welch ei-
ne Groteske! 14jährige Schüler haben 10 Zeilen Cicero »gelesen«, übernehmen »vor-
gegebene Kenntnisse« (sic!) vom Lehrer, und das Fazit lautet: »Von dieser Basis aus
kann die Beschreibung der Beschaffenheit von Sprecher (d. i. Cicero., K. W.) und Hö-
rer (Catilina, K. W.) von allen (kursiv von K. W.) geleistet werden« (ebd.).
4. Die Kollegen an der Gesamtschule sind im Rahmen ihres Konzeptes bemüht,, dem
Fach Latein »den Geruch des schichtenspezifischen Elitefaches« (Brandes S. 6) zu neh-
men und dafür ein »kollektives Bewußtsein« zu schaffen, »das zu Orientierungen fähig
ist, mit deren Hilfe soziale Ungerechtigkeiten zu überwinden sind« (Riedel S. 4). Mit
diesen Zielen stimme ich insofern überein, als ich Lateinlernen nicht einer bestimmten
Schicht, etwa der Mittelschicht, Vorbehalten möchte, sondern das Fach als einen Ge-
winn für jedermann ansehe, einen Gewinn nämlich an Mündigkeit und Bildung. (Ich
selbst habe in diesem Sinne drei Jahre lang Latein an einer gesamtschulähnlichen Aus-
landsschule gelehrt). Eine »kompensatorische Manipulation der Lernvoraussetzungen«,
auf die sich Riedel beruft (S. 2), ist m. E. jedoch ebenso abzulehnen wie die Manipula-
tion unmündiger Kinder durch ad hoc ausgewählte Kurztexte, deren soziokulturellen
Kontext sie nicht kontrollieren können.

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