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Deutscher Altphilologenverband [Hrsg.]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 28.1985

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Nr. 2
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Aufsätze
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Barié, Paul: Unzeitgemäße Gedanken zum Nutzen der Alten Sprachen für das Leben,[1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.33085#0043

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Unzeitgemäße Gedanken zum Nutzen der Alten Sprachen für das Leben*
Dfkaios öros: anhybnstos ephfesthai tön kalön
»rechte Leidenschaft: ohne Frevel nach dem Schönen streben«
Demokrit, Theoretiker des Atoms, 5. Jh. v. Chr., Fr. 73
I
Da ich seit 20 Jahren an dieser Schule als »Vermittler der Antike« tätig bin, liegt es na-
he, an Überlegungen anzuknüpfen, die ich in den Festschriften der Jubiläumsjahre
1962 und 1972 zu diesem Thema vortrug, und zunächst mit persönlichen Erfahrungen
zu beginnen.
Vor einigen Jahren kam ich im Tempelbezirk des süditalischen Paestum mit einem sehr
gebildeten und kunstinteressierten Flerrn ins Gespräch über die Alten Sprachen und die
»humaniora«, und er bemerkte, wenn er an Latein zurückdenke, glaube er immer noch
die Marschschritte römischer Legionäre zu hören; die Frühprägung durch Caesar, durch
die massive Eindeutigkeit des Bellum Gallicum, habe ein für allemal sein Verhältnis zu
den »Alten Sprachen« bestimmt, obwohl er später doch auch andere römische Autoren
wie Floraz oder Vergil gelesen habe und dem Griechischen: Homer und Platon und So-
phokles, immer noch irgendwie nachtrauere wie einer zeitlos schönen Welt, die kaum
wahrgenommen, auch schon wieder entschwunden war. Von seelischen Zwischentö-
nen, so betonte er, sei damals im Lateinunterricht kaum etwas zu spüren gewesen.
In die Rolle des Apologeten gedrängt, entsann ich mich eines Doppelverses, den ich
unlängst mit meinen Primanern gelesen und lange kommentiert hatte. Er stammt aus
dem Werk des Dichters Lukrez (etwa 98 - 55 v. Chr.) über »Die Welt aus Atomen«: De
rerum natura. Im vierten Buch wird die Situation des Menschen, der nicht nur dem
Realitätsdruck von Leid, Schmerz und Tod ausgesetzt ist, sondern das Leid geradezu
als den Preis des Glücks erfährt, in die Worte gefaßt:
...medio de fonte leporum
surgit amari aliquid, quod in ipsis floribus angat
»...mitten aus dem Quell von Glück und Lust steigt etwas Bitteres auf, was selbst unter
den Blüten ängstigt« — ein Gedanke, den im übrigen schon der platonische Sokrates
(Phaidon 80) in das eindrucksvolle Bild kleidete von den am oberen Ende zusammen-
gebundenen »Daseinssträngen« Lust und Schmerz. FHier z. B. gab ich zu bedenken, ha-
be er doch die vermißten »Zwischentöne«, und das Römerbild, das er noch im Kopfe
trage, stehe unter Ideologieverdacht, entspreche noch dem 19. Jahrhundert, der
»Gründerzeit«, sei spätestens seit 1945 passö; nach dem Zweiten Weltkrieg habe sich
das altsprachliche Gymnasium im Windschatten des politischen Neubeginns zunächst
leidlich erholt, doch ein »Paradigmenwechsel« (Manfred Fuhrmann) sei überfällig und
in der Fachdidaktik auch längst vollzogen; an die Stelle der früheren Kategorien: Krieg,
Expansion und Herrschaft, und des Vorrangs monumentaler Historie zum Zwecke
kriegerisch-patriotischer Ertüchtigung seien andere Zielvorstellungen getreten, näm-
lich Frieden, Koexistenz, Toleranz, soziale Gerechtigkeit, neuerdings auch »Selbstbe-
grenzung« (Ivan lllich) angesichts der »Grenzen des Wachstums«.

* Mit freundlicher Genehmigung des Verfassers. Entnommen aus der Festschrift ,,1432-1982.
Von der Lateinschule des Rates zum Eduard-Spranger-Gymnasium Landau in der Pfalz".

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