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Meyer, Carla; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Die Stadt als Thema: Nürnbergs Entdeckung in Texten um 1500 — Mittelalter-Forschungen, Band 26: Ostfildern, 2009

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https://doi.org/10.11588/diglit.34907#0056

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2.1. »Identität« - ein geeignetes Konzept?

55

Assmann vorgeschlagene Aufteilung in »normative« und »formative« Quellen
zurückgreifen /"
Als »normativ« bezeichnet Assmann Texte, die Kriterien für die Zugehörig-
keit zu einer Gruppe aufstellen und ihr Funktionieren garantieren. So regeln
sie etwa, dass sich ein in den Mühlenanlagen angestellter Handwerksmeister
ebenso als Nürnberger Bürger bezeichnen konnte wie ein reicher Ratsherr, und
dass ein Tagelöhner, dem das Geld für die Aufnahme als Neubürger fehlte,
als Nürnberger inzco/mcr den Schutz der Stadt genoss, während ein straffällig
gewordener Patrizier sein Bürgerrecht verwirkte/' Solche Quellen geben, so
formuliert Assmann abstrakt, Antwort auf die Frage: »Was sollen wir tun?«
Sie müssen - um an Straubs Kritik anzuknüpfen - jedoch nicht unbedingt re-
flexiv sein; statt dessen können sie auch als gemeinsame Normen, Werte, Insti-
tutionen, Welt- und Lebensdeutungen »tacit knowledge«, latentes Alltagswis-
se rU beziehungsweise eine gemeinsame nicht näher artikulierte »symbolische
Sinnwelt«*^ bleiben.
Trotz aller Erfolge und Leistungen für und in der Stadt Nürnberg ist es
also denkbar, dass sie ihren Bewohnern eine selbstverständliche und damit
gleichsam unsichtbare Größe blieb. Ihr wirtschaftlicher Erfolg - die exportier-
ten High-Tech-Waren, die eingeführten Luxusgüter, der Erwerb von Anwesen
und Territorien im Umland - und ihre politisch-administrativen Leistungen -
etwa die Erfassung der Bewohner nach Gassen zur Besteuerung oder die topo-
graphische Beschreibung des Nürnberger Umlandes zu taktisch-militärischen
Zwecken - sind zwar ein mögliches Motiv. Sie mussten jedoch nicht zwangs-
läufig in ein starkes städtisches Selbstbewusstsein münden, wie das Fehlen ent-
sprechender Zeugnisse für die staufischen und luxemburgischen Blütezeiten
des 13. und 14. Jahrhunderts eindrucksvoll belegt.
Eine Arbeit über die kollektive »Identität« Nürnbergs um 1500 kann also
nicht in einer Auflistung der Merkmale bestehen, über die sich die Nürnber-
ger aus der Retrospektive beschreiben, »identifizieren« lassen. Wenn sie nicht
auf Vermutungen und Wahrscheinlichkeiten angewiesen sein will, muss sie
vielmehr ihr Untersuchungsfeld auf Quellen beschränken, in denen sich die

60 Vgl. AssMANN, 2002, S. 141; den Terminus der »formativen« Quellen leitet Assmann von seiner
Begriffsbildung der »kulturellen Formation« ab, vgl. ebd., S. 139: Als solche bezeichnet er das
einer Gruppe gemeinsame Zeichen- und Symbolsystem, das die Teilhabe an einem gemein-
samen Wissen und einem gemeinsamen Gedächtnis gewährleistet und damit das Bewusst-
sein sozialer Zugehörigkeit vermittelt. Assmann resümiert daher: »Einer kollektiven Identität
entspricht, sie fundierend und - vor allem - reproduzierend, eine kulturelle Formation. Die
kulturelle Formation ist das Medium, durch das eine kollektive Identität aufgebaut und über
die Generationen hinweg aufrechterhalten wird.«
61 Vgl. zum »Lagemerkmal« Bürgerrecht: RuDOLF ENDRES, Sozial- und Bildungsstrukturen frän-
kischer Reichsstädte im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: Literatur in der Stadt.
Bedingungen und Beispiele städtischer Literatur des 15. bis 17. Jahrhunderts, hg. von HoRST
BRUNNER, Göppingen 1982 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 343), S. 37-72, hier S. 40, zu
den Kosten für die Aufnahme als Bürger ebd., S. 44.
62 So STRAUB, 1998, S. 103.
63 Vgl. AssMANN, 2002, S. 135, s. auch ebd., S. 134: Die Zugehörigkeit zu dieser »symbolischen
Sinnwelt« liege »als eine Selbstverständlichkeit unterhalb der Schwelle eines bewußten und
handlungsleitenden Selbstbildes.«
 
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