111.3 Der jüdische Gelehrte im Disput
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111.3.3 Protomärtyrer - Protodisputant? Stephanus als Vorbild für Silvester
Silvester und die Silvesterdisputation stellen für die deutsche Literatur des Mittelalters
die Urdisputation dar. Silvester ist aber keineswegs der erste Heilige in der Nachfolge
Jesu, der mit Juden disputiert. Diese Rolle kommt vielmehr dem Protomärtyrer Stepha-
nus zu, von dem die Apostelgeschichte überliefert, dass er vor seiner Steinigung dem
Hohen Rat gepredigt hat. Die Passage (ohne die lange Predigt des Stephanus vor dem
Hohepriester) sei hier wiedergegeben [Apg 6,8-15; 7,1 und 7,54-60].
»Stephanus aber, voll Gnade und Kraft, tat Wunder und große
Zeichen unter dem Volk. Doch einige von der sogenannten Syn-
agoge der Libertiner und Zyrenäer und Alexandriner und Leute
aus Zilizien und der Provinz Asien erhoben sich, um mit Stepha-
nus zu streiten; aber sie konnten der Weisheit und dem Geist, mit
dem er sprach, nicht widerstehen. Da stifteten sie Männer zu der
Aussage an: >Wir haben gehört, wie er gegen Mose und Gott
lästerten Sie hetzten das Volk, die Altesten und die Schriftgelehr-
ten auf, drangen auf ihn ein, packten ihn und schleppten ihn vor
den Hohen Rat. Und sie brachten falsche Zeugen bei, die sagten:
>Dieser Mensch hört nicht auf, gegen diesen heiligen Ort und das
Gesetz zu reden. Wir haben ihn nämlich sagen hören: Dieser
Jesus, der Nazoräer, wird diesen Ort zerstören und die Bräuche
ändern, die uns Mose überliefert hat.< Und als alle, die im Hohen
Rat saßen, auf ihn blickten, erschien ihnen sein Gesicht wie das
Gesicht eines Engels. Der Hohepriester aber fragte: Ist das wahr?
Stephanus antwortete [...]. Als sie das hörten, waren sie aufs
Äußerste über ihn empört und knirschten mit den Zähnen. Er
aber, erfüllt vom Heiligen Geist, blickte zum Himmel empor, sah
die Herrlichkeit Gottes und Jesus zur Rechten Gottes stehen und
rief: Ich sehe den Himmel offen und den Menschensohn zur
Rechten Gottes stehen. Da erhoben sie ein lautes Geschrei, hielten
sich die Ohren zu, stürmten gemeinsam auf ihn los, trieben ihn
zur Stadt hinaus und steinigten ihn. Die Zeugen legten ihre Klei-
der zu Füßen eines jungen Mannes nieder, der Saulus hieß. So
steinigten sie Stephanus; er aber betete und rief: >Herr Jesus,
nimm meinen Geist auf!< Dann sank er in die Knie und schrie
laut: >Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an!< Nach diesen Wor-
ten starb er.«
Obwohl die Apostelgeschichte nur den Wortlaut der monologischen Predigt überliefert
und sonstige Inhalte aus Streitgesprächen mit »den Juden« nicht wiedergibt, machen
einige mittelalterliche Verfasser aus Stephanus einen Disputanten.^' Zwei zentrale und
Die ElsLA verwendet auf S. 51,19 das Verb »disputieren« analog zur LatLA 79f., die AspnD-
h'o und A'spnDrc viermal verwendet. Ähnlich MB 26715; 25725 und die Predigt De sencio
SDpOno [Nr. 68], in: ANTON E. SCHÖNBACH, Altdeutsche Predigten, Bd. 1, Graz 1886, S. 141f.,
hier: S. 141,27. PASS, ElsLA und HL folgen der LatLA zum Teil wörtlich, verstärken aber die
übernommenen narrativen Elemente, besonders das >Passional<.
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111.3.3 Protomärtyrer - Protodisputant? Stephanus als Vorbild für Silvester
Silvester und die Silvesterdisputation stellen für die deutsche Literatur des Mittelalters
die Urdisputation dar. Silvester ist aber keineswegs der erste Heilige in der Nachfolge
Jesu, der mit Juden disputiert. Diese Rolle kommt vielmehr dem Protomärtyrer Stepha-
nus zu, von dem die Apostelgeschichte überliefert, dass er vor seiner Steinigung dem
Hohen Rat gepredigt hat. Die Passage (ohne die lange Predigt des Stephanus vor dem
Hohepriester) sei hier wiedergegeben [Apg 6,8-15; 7,1 und 7,54-60].
»Stephanus aber, voll Gnade und Kraft, tat Wunder und große
Zeichen unter dem Volk. Doch einige von der sogenannten Syn-
agoge der Libertiner und Zyrenäer und Alexandriner und Leute
aus Zilizien und der Provinz Asien erhoben sich, um mit Stepha-
nus zu streiten; aber sie konnten der Weisheit und dem Geist, mit
dem er sprach, nicht widerstehen. Da stifteten sie Männer zu der
Aussage an: >Wir haben gehört, wie er gegen Mose und Gott
lästerten Sie hetzten das Volk, die Altesten und die Schriftgelehr-
ten auf, drangen auf ihn ein, packten ihn und schleppten ihn vor
den Hohen Rat. Und sie brachten falsche Zeugen bei, die sagten:
>Dieser Mensch hört nicht auf, gegen diesen heiligen Ort und das
Gesetz zu reden. Wir haben ihn nämlich sagen hören: Dieser
Jesus, der Nazoräer, wird diesen Ort zerstören und die Bräuche
ändern, die uns Mose überliefert hat.< Und als alle, die im Hohen
Rat saßen, auf ihn blickten, erschien ihnen sein Gesicht wie das
Gesicht eines Engels. Der Hohepriester aber fragte: Ist das wahr?
Stephanus antwortete [...]. Als sie das hörten, waren sie aufs
Äußerste über ihn empört und knirschten mit den Zähnen. Er
aber, erfüllt vom Heiligen Geist, blickte zum Himmel empor, sah
die Herrlichkeit Gottes und Jesus zur Rechten Gottes stehen und
rief: Ich sehe den Himmel offen und den Menschensohn zur
Rechten Gottes stehen. Da erhoben sie ein lautes Geschrei, hielten
sich die Ohren zu, stürmten gemeinsam auf ihn los, trieben ihn
zur Stadt hinaus und steinigten ihn. Die Zeugen legten ihre Klei-
der zu Füßen eines jungen Mannes nieder, der Saulus hieß. So
steinigten sie Stephanus; er aber betete und rief: >Herr Jesus,
nimm meinen Geist auf!< Dann sank er in die Knie und schrie
laut: >Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an!< Nach diesen Wor-
ten starb er.«
Obwohl die Apostelgeschichte nur den Wortlaut der monologischen Predigt überliefert
und sonstige Inhalte aus Streitgesprächen mit »den Juden« nicht wiedergibt, machen
einige mittelalterliche Verfasser aus Stephanus einen Disputanten.^' Zwei zentrale und
Die ElsLA verwendet auf S. 51,19 das Verb »disputieren« analog zur LatLA 79f., die AspnD-
h'o und A'spnDrc viermal verwendet. Ähnlich MB 26715; 25725 und die Predigt De sencio
SDpOno [Nr. 68], in: ANTON E. SCHÖNBACH, Altdeutsche Predigten, Bd. 1, Graz 1886, S. 141f.,
hier: S. 141,27. PASS, ElsLA und HL folgen der LatLA zum Teil wörtlich, verstärken aber die
übernommenen narrativen Elemente, besonders das >Passional<.