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Repertorium für Kunstwissenschaft — 2.1879

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Litteraturbericht. Theorie und Technik der Kunst. Kunstunterricht
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https://doi.org/10.11588/diglit.61799#0266

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Litteraturbericht.

das Gapitel über die Proportionen des menschlichen Körpers sowohl von Seite
der Künstler als von Männern der Wissenschaft durch zahlreiche Arbeiten
erweitert. Die meisten Autoren halten zunächst die Zwecke des Künstlers im
Auge und berücksichtigen vorzugsweise die relativen Mafse, da sich die Kunst-
darstellungen nur in seltenen Fällen in der Naturgrösse bewegen und das
Reduciren der absoluten Grössen nach den allgemeinen Mafsstäben für die
Praktik denn doch mit Unzulänglichkeiten verbunden ist. Eine Ausnahme
machen hiervon nur Horace Vernet und Gottfried Schadow, die sich weniger
um den harmonischen Inhalt der Verhältnisse kümmerten und nur die abso-
luten Mafse nach gewöhnlichen Mafsstäben angaben. Alle andern Autoren
von Bedeutung, die Proportionslehren aufstellten, haben ihr Grundmass aus
dem Körper selbst genommen. So nahm Leon Battista Alberti die Fusslänge,
Leonardo da Vinci, Jean Cousin, Gerdy Claude, Audran, Salvage, Seiler die
Kopflänge, Ghrisostomo Martinez, Lavater, Preissler die Gesichtslänge, Jombert
die Nase, Garus die Wirbelsäule des Neugeborenen, M. de Montabert, Dürer,
Quettelet, Zeising und Langer die Totalhöhe als Einheit zu ihren Messungen.
Die genannten Autoren suchten Normalmafse entweder — durch die Natur
selbst — in Mittelzahlen verschiedener Beobachtungen, oder sie construirten
die Hauptmafse auf geometrischem oder mathematischem Wege. Solche mehr
auf philosophischer Speculation beruhende Systeme haben äusser Carus vor-
nehmlich Zeising, Licharzik und in jüngster Zeit, auf Zeising fussend,
Joh. Bochenek aufgestellt.
Es hat seine Reize die Natur a priori mit Gesetzen zu umrahmen und
die Wahrheit ihr auf diesem Wege dictiren zu wollen: doch wenn man die
unendlichen Complicationen von Bedingungen für die Ausbildung der mensch-
lichen Gestalt bei unserer völligen Unkenntniss der ursprünglichen Formbildung
organischer Wesen überhaupt in Betracht zieht, so ist der Boden wohl genug
gekennzeichnet, auf welchem sich die Hypothesen der Formgesetze vorläufig
nur aufbauen können. Und welche Bedeutung für die Wissenschaft oder Kunst
haben die aus einer Reihe von Beobachtungen gezogenen Mittelwerthe ? Sie
können so wenig zum Ausgangspunkt des Ideals wie zu einer bestimmten
Normalform führen, sondern werden nicht mehr als reale Werthe bleiben wie
alle übrigen, die annähernd in den durch die Individualität bedingten Schwan-
kungen die Mitte halten. Es wird daher einem Künstler gleichgültig sein
müssen, ob er ein auf obigem Wege construirtes Idealskelet oder irgend eine
gesunde reale Vorlage seinen Studien für die Verhältnisse des menschlichen
Körpers zu Grunde legt; er hat ja bloss die Hauptdimensionen mit dem Mafs-
stabe zu controliren, das Idealisiren der Form ist doch stets von der Individualität
des Darzustellenden abhängig, wofür Recepte allgemeiner Natur nicht existiren
können. Zum praktischen Nutzen wird eine Proportionslehre für den Künstler
im Weiteren auch nur dann sein, wenn die Entwicklung der Normen möglichst
einfach und die Masseinheit einem leicht messbaren Theile der Gestalt ent-
nommen ist. Beiden Richtungen entspricht obgenannte Wandtafel Lucae’s.
Das in drei Ansichten (im geometrischen Aufriss) dargestellte Skelet ist
das eines jungen, gesund entwickelten Mannes, also kein Ideal-Skelet, sondern
 
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