Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 12.1906

DOI Heft:
Nr. 9
DOI Artikel:
Jacques, Norbert: Kleine Mädchen-Spiele
DOI Artikel:
Schäfer, Wilhelm: Ferdinand von Saar
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.26232#0155

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Annele! Der Prinz!
Plötziich trat in einem Haus hinter dem
Tor eine Frau aus einer Tür auf die Treppe.
Sie war übel und unsauber gekleidet und
rief mit einer schrillen Stimme: ,,Anne! . . .
Wo bischt wieder, du unpolitisch Luder? Gähst
schneli Essig hole Her de Saiot. De Pappe
kummt gii homm!"
Dann sah man, wie die Frau eine kleine
schwarze Flasche auf die Treppe steilte und
wieder durch die Tür ins Haus hinein ging.
Als das Annele die Stimme hörte, er-
schrak sie. Sie öffnete die Augen und fiel
aus dem Rundumdrehen des wilden, sehn-
süchtigen Liedes. Den Buben zurückstoßend,
lief sie schnell durchs Tor auf die Essig-
Hasche zu.

ERDINAND VON SAAR f.
Von W. SCHÄFER.
Ferdinand von Saar hat sich erschossen,
um einem quaivollen Krebsleiden zu entgehen.
Dieser Tod des Dreiundsiebzigjährigen paßt
seitsam zu dem Mann und seinem Werk. Weni-
gen bekannt, hat der ehemalige österreichische
Ofhzier seine Erzähiungen geschrieben, die alle
ein modernes Schicksal so erzählen, wie etwa
spät im Kasino irgend ein aiter Herr Eriebnisse
auspackt, die ihn selber nur streiften, deren
Vollendung ins Tragische er aber auf irgend
eine — manchmal fast unwahrscheinliche —
Weise miteriebte. Das Gemeinsame daran war,
daß diese Schicksaie ihren Anfang irgendwo
im alitägiichen Leben nahmen. Sie wurden
dadurch gewiß nicht größer, verioren sogar
etwas an Kraft, aber sie kamen einem unmerk-
iicher ans Herz, man eriebte sie persöniicher,
und stand zum Schluß mitten im Aiitag so
dicht vor der menschiichen Tragik wie wir
jetzt, da wir von dem tapfern unseligen Ende
des schiichten Mannes hörten.
Die Erzählungen von Saar haben es mit
Ausnahme einer Separatausgabe von ,,Innocens"
höchstens bis zur zweiten Aufiage gebracht,
trotzdem die ,,Novelien aus Österreich" schon
im Jahre 1876 erschienen, also in diesem Jahr
schon ihren dreißigsten Geburtstag feiern konnten.
Und das in einer Zeit, da die ,,meistgeiesenen
Bücher" sich in großen Aufiagen fortwährend
übertrumpfen. Man muß freilich wissen, daß
auch der ,,Grüne Heinrich" nun erst seine
vierzigste Aufiage erlebte; und der ist doch das
Wunderbuch des deutschen Gefühls. Gegen den
unerschöpfiichen Fabulisten Keiler freilich ist
Ferdinand von Saar nur ein schiichter aiter
Herr, aber von der Schiichtheit eines alten
feinen Militärs, dem andere Dinge erreichbar
waren als den Bürgern und pensionierten Be-
amten, unter denen er nun so ais ihresgleichen

lebte. Wieviei seine schlichten Sachen bedeuten,
das wurde mir gerade in diesen Tagen kiar,
als ich sein Schicksal noch nicht ahnend zu-
fäliig in dem ,,Schatzkästlein moderner Erzähler"
blätterte (einer dreibändigen empfehlenswerten
Auswahl im Veriag von Veihagen & Kiasing,
leider in einer geschmackiosen Aufmachung). Zu-
fällig geriet ich über ,,Gustav Adolfs Page",
die mir wohlbekannte romantische Geschichte
von Conrad Ferdinand Meyer; ich las die ersten
sechs Seiten wieder einmai und war bis ins
Herz erschrocken; so wenig ich dem Novellisten
von Kiichberg jemals völiig traute: so belangios,
so geßickt und notdürftig rundgebracht hatte ich
seine Art doch niemals früher wahrgenommen.
Etwas verärgert im Blättern geriet ich ebenso
zuiäiiig an die mir ebenfalls seit langem be-
kannte ,,Steinklopfer"-Geschichte von Saar. Es
ist gewiß nicht seine beste; aber ais ich ein
paar Seiten dieser schlichten unverfälschten
Sprache geiesen hatte, da war mirs nach dem
historischen Getu des Conrad Ferdinand Meyer
wahrhaftig wie ein kühies freies Bad.
Ich weiß genau, auch in dieser Geschichte
wie in alien andern spukt eine romantische
Neigung des alten Ofßziers und macht ein paar
unwahrscheinliche Kaprioien; aber ich kann
mit reiner Freude daran denken. Man hat Saar
den österreichischen Storm genannt, und dabei
gewiß an diese unwahrscheiniichen Dinge ge-
dacht, die auch da in aiten Vorstadthäusern
passieren; doch ist Saar, wenn man will pro-
saischer, er macht weniger Aufhebens, ist mehr
der alte plaudernde Herr, als der dichtende
Erzähier; und insofern vergiich ich ihn einmai
in diesen Biättern mit dem norddeutschen Fon-
tane, dessen kühie Ironie bei ihm einen öster-
reichischen Einschlag von Straußschen Waizern
und sentimentaieren Dingen hat.
Seitdem ias ich den ,,Spielmann" von Griii-
parzer, und nun weiß ich, wes Geistes und
Herzens Kind er war; denn diese schlichte
Tragik, auch ganz unscheinbar aus einer zu-
fäiiigen Begegnung entwickeit, auch ein wenig
unwahrscheiniich in der reichlichen Berührung
der erzählten Personen mit dem Dichter, könnte
in einem Buch von Saar stehen und niemand
würde sie heraushnden. Es ist weder Storm
noch Fontane: es ist der Österreicher, der uns
in Saar so verhalten, so wenig getroifen von
der Tragik des Lebens entgegentritt, obwohl
ihm der leise Ton dieser Tragik nicht aus der
Stimme geht. Der Deutsche in Österreich,
unter schwierigen Verhältnissen weniger selbst-
vertrauend als der Reichsdeutsche, gieichsam
noch immer unter den Zeiten Metternichs lei-
dend, unter dem System einer von Beziehungen
abhängigen Beamtenschaft, dabei zutraulich mit
dem Volk ais seinen Leidensgenossen, und un-
zertrennlich von seinem Wien: das ist Saar
als Erzähler so wie es vor ihm und nach ihm
keiner war.


117
 
Annotationen