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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 12.1906

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Nr. 9
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Schäfer, Wilhelm: Der Enkel des Tiberius
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Henrici, Karl: Langweilige und kurzweilige Strassen
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https://doi.org/10.11588/diglit.26232#0147

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DER ENKEL DES TIBERIUS.

Kappe und fand sie nicht und schüttelte den
Kopf, nahm aber nicht die dargebotene Hand
des Pfarrers und ging hinaus. Er war schon
drauhen, da Rel dem Pfarrer ein Fürwitz ein,
er machte rasch das Fenster auf und rief den
iangsam Schreitenden zurück. Der kam auch
folgsam, und als der Pfarrer den vergessenen
Schädei in der Hand rasch aus der Haustür
trat, stand er schon da. Er reichte ihm mit
einem milden Scherzwort die arg verbeulte
Knochenkugel hin, und mochte wohi denselben
Augenblick schon fühlen, daß eine Dummheit
im Spiete war. Denn ais der Bauer Lüsebrink
den Schädel sah, stieg wieder Leben in sein
Gesicht; doch war es fremd und seltsam. Er
nahmnun auch gehorsam seineHand; undwie
er ihn mit seinem Schädel demütig trotten sah,
da Hog dem Pfarrer ein hochmütiger Gedanke
um den Mund.
Das Heckentor schien schwer im Schloß zu
stecken; er sah ihn zweimal daran rütteln und
ging ihm nach, dabei zu helfen. Da kam der
Lüsebrink zurück und trug den Schädel in der
Hand gleich einem Stein und hielt den Kopf
wie etwas suchend vorgesenkt; und als er bis
auf einige Meter an ihn heran war: da holte
er sehr plötzlich aus und warf den Schädel mit
solcher Kraft ihm vor den Leib, daß der Pfarrer,
trotzdem er groß und stark gewachsen war, sich
auf der Stelle drehte und mit gespreizten Händen
T ANGWEILIGE UND KURZ-
! ' WEILIGE STRASSEN/
Von KARL HENRICI.
Eine Straße nenne ich langweilig, wenn auf
ihr der Wanderer den Eindruck bekommt, als
sei der Weg länger als er wirklich ist; kurz-
weilig nenne ich sie, wenn das Umgekehrte
der Fall ist.
Wenn man nun nicht etwa mit der Anlage
städtischer Straßen den Zweck verfolgt, das
Leben durch eingeschobene Episoden der Lang-
weile für die Einbildung des Menschen zu ver-
längern, so sollte man vermeiden, langweilige
Straßen anzulegen, man sollte dagegen alle
Mittel anwenden, welche dazu führen könnten,
die Straßen kurzweilig zu machen.
Zu untersuchen, wodurch Straßen kurzweilig
werden, und wie schon in der Anlage dieser
Fehler vermieden werden kann, ist der Zweck
dieser kleinen Erörterung.
Je weniger man in dem perspektivischen
Straßenbilde von der Grundßäche und von den
Wandungen zu sehen bekommt, um so kürzer
wird die Straße aussehen, aber um so lang-
weiliger wird sie sein; je mehr man von der
Grundfläche und den Wandungen zu sehen be-
*Aus: „Beiträge zur praktischen Ästhetik im Städtebau".
(Verlag D. W. Cailwey, München.)

seitwärts vom Weg zu sitzen kam, wo er fürs
erste sitzen blieb.
Der Bauer Lüsebrink lief nicht fort, und hatte
keine Last mehr mit dem Tor; er hörte auch
die Bauern unterwegs nicht lachen. Doch ging
er geradeswegs zurück ins Dorf und in sein Haus;
und als er seine Frau beim Melken fand — am
Morgen hatte ihr die Zeit gefehlt - da ließ er
alles ruhig machen. Doch als sie danach meinte,
ihm mit der alten Frechheit anzukommen,
da hob er sie mit einem Griff und gab ihr gründ-
lichen Bescheid, wo sie seit ihrer Kindheit ihn
nicht erhalten hatte, bis sie das letzte Zappeln
ließ und ihren Rest still hinnahm.
Doch war dies kein Beginn von täglichem
Gebrauch. Er schlief danach sehr lange und
schien der alte Lüsebrink; nur daß er um die
Arbeit ging, wie wenn er schwach in den
Sehnen wäre. Und war nicht viel im
Wirtshaus, doch trank er viel, wenn man ihn
sah; und wurde, wie's auf dem Lande häuhg
geht, ein Trinker, der kein Säufer ist. Für eine
Anstalt nicht verrückt genug und doch kein
Mensch, wie ihn das Land gebrauchen kann: so
ging er schließlich ein und ward begraben
wie einer, den man sicher weiß. Wohl aber
steht der Schuppen noch mit seinem schwarzen
Dach gleich einer Henne und an der Straße das
Schild, wie eine Hand gesägt, und weist den
Fremden zum ,,Enkel des Tiberius".
kommt, um so länger wird sie aussehen, aber
um so kurzweiliger wird ihre Durchwanderung
ausfallen.
Das Ende der Straße in perspektivischer
Verkürzung immer vor sich zu haben und es
erst später erreichen zu können, als man anzu-
nehmen verführt wurde, wirkt ermüdend und
entmutigend auf den Wanderer; wenn der
Wanderer dagegen das Ende eher erreicht, als
er glaubte annehmen zu können, so fühlt er
sich überrascht und ermutigt, er ist durch die
unterhaltende Abwechslung in den aufeinander
folgenden Eindrücken in angeregte Stimmung
versetzt und diese hilft bekanntlich am besten
über die Ermüdung hinweg.
Man braucht sich nur zu vergegenwärtigen,
wieviel langweiliger und ermüdender es ist,
zwei Stunden in einer schnurgeraden durch die
Ebene sich hinziehenden Pappelallee entlang
zu pilgern, als zwei Stunden im Hochgebirge
zu wandern.
In der Mitte zwischen kurzweiligen und
langweiligen Straßen steht die Normalstraße.
Diese ist ganz gerade, ist wagerecht oder hat
durchaus gleichmäßige Steigung, und sie hat
ununterbrochene, genau parallele Wandungen.
Ich nenne solche Straßen normal, weil man
über ihre Länge nicht getäuscht wird. Das
Auge ermißt ihre Abmessungen richtig, vor-
ausgesetzt, daß sie nicht länger ist, als
 
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