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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 12.1906

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Nr. 10
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Schmidt, Erich: Einleitung zum "Michael Kohlhaas"
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https://doi.org/10.11588/diglit.26232#0199

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Tl'INLEITUNG ZUM „MICHAEL
KOHLHAAS".
Von ERICH SCHMIDT*
1810 stellte Heinrich v. Kleist den „Michael
Kohlhaas" an die Spitze seiner „Erzählungen",
nachdem er zwei Jahre vorher in der von ihm
und Adam Müller herausgegebenen Dresdener
Zeitschrift „Phöbus" ein großes bis zur Er-
stürmung der Tronkenburg reichendes Stück
dargebracht und damit, neben der „Marquise
von O.", vor einem noch ziemlich gleichgültigen
Publikum seinen eigensten Beruf als Epiker
ebenso stark erwiesen hatte wie durch sehr
verschiedene gewichtige Gaben seine drama-
tische Sonderart. Er beschritt nicht den Pfad
Goethes oder gar Wielands und blieb der wort-
reichen Gesprächigkeit fern, womit später Lud-
wig Tieck die deutsche Novelle so fruchtbar aus-
stattete, ließ auch, streng auf die Gattungsgrenzen
bedacht, keinerlei romantische Lyrik mit Schil-
dereien, Gefühlsergüssen, Einlagen den epischen
Vortrag durchbrechen. Was den alten Meistern
Italiens oder Spaniens eignet, die sparsame Herr-
schaft des gebietenden Grundmotivs, prägte
Kleist sicher und blank aus. Zeit und Lokal
eines Stoffes wehren bei ihm modernen Ver-
bildungen und Abschweifungen, verleiten ihn
aber nie dazu, in antiquarischen oder fremd-
ländischen Einzelheiten zu wühlen oder einen
geschichtlichen Hintergrund breit zu entwerfen.
Gedrungene sachliche Kraft scheidet ihn von
seinem Landsmann und nationalen Gesinnungs-
genossen Achim v. Arnim, dem adeligen Dilet-
tanten im besten und im übleren Sinn, der
auch als Wanderer durch die licht- und liebe-
voll erfaßte Vorzeit nichts ausschalten kann,
was ihm unterwegs einfällt. Mit sehr ungleichen
Gefäßen haben beide Märker denn aus dem
neueröffneten Born alter Überlieferungen ge-
schöpft.
,,Aus einer alten Chronik", bemerkt Kleist
zu seiner Erzählung und deutet so auf den ver-
mittelnden Gewährsmann der von ihm dichte-
risch vertieften und gerundeten Begebenheiten;
schon E. T. A. Hoffmanns Serapionsbrüder sind
diesem Fingerzeig gefolgt. Es gilt geschicht-
lichen Ereignissen, die ihren folgenschweren
Ausgang 1532 davon nahmen, daß dem zur
Leipziger Messe ziehenden Berlin-CöIInischen
Kaufmann Hans Kohlhase nach einem Streit
mit Bauern des Junkers Günther v. Zaschwitz
ein Paar Gäule gepiändet und ob dieser Unbill
keine Genugtuung gewährt worden war. Kohl-
hase bot alle Kraft und alle Habe zu diesem
Kampf ums Recht auf, bis er, von der Justiz
hingehalten und auf die abschüssige Bahn des
Selbsthelfers gedrängt, mit anwachsenden, all-
gemach zuchtlosen Banden durch große Hand-
* Siehe unter Pantheon-Ausgaben (S. 158). D. Red.

streiche Kursachsen aufrührte, den Feuerbrand
in Wittenbergs Mauern warf und endlich nach
einer unparteiischen Mahnung Luthers, nach
langwierigen Verhandlungen zwischen Sachsen
und Brandenburg, nach mehreren fruchtlosen
Rechtstagen und was der Dinge sonst war, sich
zu Gewalttaten auf heimischem Boden fort-
reißen ließ. Dabei erscheint er nirgend als ein
darauf los wütender gemeiner Empörer, sondern
hält lang an sich in dieser rechtsarmen Zeit.
Ein grandioser Zug wird überliefert: der nicht
ungebildete Mann löst einmal die Gebeine hin-
gerichteter Getreuen und schickt die Räder vom
Galgenberg zu Tal mit einem Zettel: Recte
judicate, hlii hominum! Zuletzt verschmähte
Kohlhase die Gunst des Köpfens, um zu sterben
wie sein schlimmer Gesell Georg Nagelschmidt:
gleiche Brüder, gleiche Kappen. So ward er
am 22. März 1540 in Berlin gerädert.
Diese für Erzähler und Dramatiker reizvollen
Begebenheiten hat bald der Berliner Peter Hafftiz
in dem handschriftlichen deutschen „Micro-
chronologicum" frei aufgestutzt. Kleist las die
Hans Kohlhasen gewidmete Partie in Schöttgens
und Kreysigs „Diplomatischer und curiöser
Nachlese der Historie von Obersachsen" (1111731);
dazu kamen, wie neuestens der Herausgeber
unsrer Sammlung betont, Anregungen durch
das, was über Colhasius und seine Zeit im
weitläuhgen Latein des märkischen Geistlichen
und Geschichtschreibers Nicolaus Leutinger zu
hnden war. Nach der „alten Chronik" — um
es zusammenzufassen — ist der ansehnliche
Cöllnische Bürger Hans Kohlhase nicht mehr
ein Speck und Heringe feilbietender Krämer,
sondern ein „Handelsmann der sonderlich mit
Viehe gehandelt"; da hat der Junker gleich an-
fangs die Bauern verdrängt; da erwächst aus
Luthers brieflichem Eingreifen eine große Szene;
da tritt die Not der armen schwangeren Frau
schmerzlich hervor; da wird von zauberischer
Kraft gerätselt und endlich fabuliert, daß Kohl-
hases Leichnam einen Monat lang geblutet und
der Kurfürst von Brandenburg das tödliche Ge-
richt bereut habe.
Mit vollkommener Knappheit, wie es Kleist
an der Spitze seiner gleich den Stücken des
Decameron in einen prägnanten Satz zu ballen-
den Novellen liebt, wird sofort die Heimat, das
Zeitalter, der Name, der Stand und der Cha-
rakter des Helden angegeben und nach einem
Uberblick seines ganzen Zustandes sein Ver-
hängnis bezeichnet: „Das Rechtsgefühl aber
machte ihn zum Räuber und Mörder"; dies
Rechtsgefühl von, dem es später schön heißt,
daß es der Goldwage glich. Dann folgt der
unheilschwere Ritt, und nun entfaltet Kleist
langsam, die Ereignisse mit dem Wesen seines
Kohlhaas verkettend, das ganze Getriebe. Hier
ist kein bornierter Eigensinn im Spiele, wie
bei Otto Ludwigs Erbförster, sondern für

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