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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 12.1906

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Nr. 11
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Hesse, Hermann: Die Novembernacht
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Hackemann, August: Zur Geschichte des Wunderhorns
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https://doi.org/10.11588/diglit.26232#0245

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DIE NOVEMBERNACHT.

,,Hergott," unterbrach ihn Aber plötzlich,
,,das ist ja der Elenderie. Kein Mensch in
Europa besitzt einen ähnlichen Bratenrock."
Sie stiegen einige Stufen hinab, Elenderle
lag mit dem Gesicht auf den Stufen. Sie hoben
ihn auf, geronnenes Biut war aui seinem ganzen
Gesicht verschmiert.
,,Der ist bös gefahen!" seufzte Aber. Da
klirrte etwas am Boden. Aus der starren Hand
Eienderies war ein Revolver gefailen, und nun
sahen die Freunde auch an der rechten Schiäfe
eine kleine schwarze Wunde. Lauscher steckte
ein Streichhoiz an.
,,Bleib du hier," sagte Aber mit verwandelter
Stimme, ,,ich gehe zur Poiizei."
^VUR GESCHICHTE DES
Zy WUNDERHORNS.
Von AUG. HACKEMANN.
Zum eisernen Bestande unserer ästhetischen
Biidung gehört ein mehr oder minder kiares,
hier und da unter der Schwelle des Bewußt-
seins ruhendes, immer aber subjektives Urteiis-
vermögen, das uns befähigt, zwischen Kunst-
poesie und Volksgesang zu unterscheiden.
Wir glauben einen sicheren Prüfstein in uns
zu besitzen, vermöge dessen wir jede poetische
Äußerung fürkunstmäßig odervolkstümlich
zu erkiären berechtigt sein wolien. Die unaus-
gesprochenen und auch schwer deßnierbaren
ästhetischen Begriffe und Kriterien, mit denen
wir hier arbeiten, sind uns durch den Schul-
unterricht oder durch das Studium der Literatur
oder auch durch unmittelbare Berührung mit
der Volkspoesie überkommen, wie eine soiche
Berührung noch heutzutage jedem Gebiideten
durch mannigfache Geiegenheiten, sei es auch
nur durch die Praxis des Soldatenlebens, ge-
geben ist. Der Literaturkundige alierdings weiß,
daß wir den ganzen ästhetischen Kreis der
Volkspoesie, sowohi die aligemeinen Begriffe
wie die Einzelkenntnisse, im wesentlichen dem
Zeitaiter der Romantik — das Wort im weitesten
Sinne gefaßt — verdanken. Freiiich mußten
einige kraftvoiie Pioniere vorausgehen. Seit dem
Erscheinen von Percys ,,Relics of Ancient
Engiish Poetry" (London 1765) wurde hier und
da in Deutschiand, besonders in der jungen
Generation der Dichter und Geiehrten, ein reges
Interesse für Volkspoesie iebendig und wuchs
mit den Jahren in die Breite wie in die Tiefe.
Die Dichter des Göttinger Hains, besonders
Bürger und Boie, einige Vertreter des so-
genannten Sturms und Drangs, z. B. Maier
Müiier und Schubart, dann der vieiseitige Be-
obachter, poetische Erwecker und Säemann
Herder, ferner dessen Straßburger Zögling, der
junge Goethe — sie aile gehören in die Reihe

,,Lassen Sie mich das besorgen," rief da
eine scharfe Stimme. Der Fremde kam vom
Ammerweg her die Treppe herauf. Er rückte
giftig lächelnd am Hut und blitzte die Freunde
grinsend aus den frechen Augen eiskalt und
höhnisch an. Beide erschraken bis ans Herz
und rannten durch die Nacht davon.
Ais sie am andern Tag erwachten, giaubten
beide den ganzen Spuk geträumt zu haben.
Die Hauswirtin pochte an Lauschers Tür und
kam mit dem Kaffee herein.
„Denken Sie, Herr Lauscher, der Jammer!
Heute nacht hat sich ein Student das Leben
genommen."

der Männer, die den Voiksliedarbeiten der
Romantiker den Boden bereiteten. Mit dem
nächsten Namen, der hier zu nennen ist, A. W.
Schlegei, geiangen wir schon in den Kreis der
irühen Romantik. Die meisten der Genannten
kannten und wiederholten das Wort von dem
„deutschen Percy", nach dem man hoffend und
glaubend ausschaute, nach dem man immer
sehnsüchtiger rief.
Aiien diesen Erwartungen und Wünschen
brachte die sogenannte jüngere Romantik, die
ihren Brennpunkt in Heidelberg hatte, im Jahre
1805 den Tag der Erfüliung: es erschien „Des
Knaben Wunderhorn", herausgegeben von
Achim von Arnim und Ciemens Brentano,
und mit Recht faßt Lohre* die geschichtliche
Bedeutung dieser Sammiung in die Worte: Der
deutsche Percy war gekommen. Das Buch —
es ist der erste Band — trägt zwar den Ver-
merk: Heidelberg 1806, erschien aber bereits
zur Oktobermesse 1805; die Jubiläumsmeierei
unserer Tage hat sich also den richtigen
Zeitpunkt des Wunderhornjubiiäums entgehen
lassen.
Ludwig Achim von Arnim (geb. 26. Ja-
nuar 1771 in Berlin) und Clemens Maria
Brentano (geb. 8. September 1778 in Ehren-
breitstein) geben uns das Biid einer Freund-
schaft und einer zeitweiiigen literarischen Ge-
meinschaft, wie sie intimer, dauerhafter und
fruchtbringender in der Geschichte der deut-
schen Dichtung wohl kaum ein zweites Mal
vorgekommen ist. Beide zeigen in Leben und
Dichtung den ausgeprägten romantischen Cha-
rakter, wenn auch vielieicht jeder von ihnen
verschiedene Seiten der romantischen Be-
wegung besonders kiar verkörpert. Bren-
tano die phantastisch-blühende, traumhaft-ver-
worrene Märchenweit, die ekstatisch-ruheiose,
im tiefsten Grunde religiöse Sehnsuchtstimmung,
Arnim das frische und derbe Erfassen ver-
gangener Epochen, zumal den freudigen, auf
iiebevoiies Einfühien sich gründenden Schritt
* Lohre : Vom Percy zum Wunderhorn, Berlin 1902, S 131.

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