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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 30.1920

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Heft 1
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https://doi.org/10.11588/diglit.26486#0062

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heit des Ichb irgend etwas heraus mrd geben es init einer dnräi
Sümmungen und Gedanken verbrämten Erzählung empfindsamer
Art: gleichsam, als ob sie wohl durch den Strom den Zusammenhang
unt der großen Welt irgendwie äußerlich gefunden hätten, aber
iunerlich an ihr Tal und ihren Winkel gebunden geblieben wären.
Scbiller, der ja auch ein Scbwabe, also ein Alemanne, war, har in
seinem beruhmten Äufsatz diese Art der Dichtung als die senümen:
tale von der naiven unterschieden, auch ist er tapfer genug gewesen,
Goethe als den naiven Dichter im Gegensatz zur eigenen senti:
mentalischen Art zu empfinden. So könnte man also versucht sein,
zu verallgemeinern, was dieses Atemannenbuch bekennt: daß die
alemannische Art im sentimentalen Sinn deutsch sei. Aber man
braucht sich nur an den einen Namen Johann Peter Hebel zu er-
innern, um vor eincm Trugschluß bewahrt zu sein. In Wahrheit
wird es so liegen, daß unsere ganze Zeit — zum wenigsien in Deutscb:
land — sentimental ist. Die besondere Weise, es zu sein, müßte
daraus für die Alemannen gefunden werden, um etwas über ihre
Art auszusagcn. Dazu kann aber natürlich nicht dieses Alemannen:
buch als Grundlage genügen, das seine Note ebensowobl durcb die
Auswahl des Herausgebers gewonnen haben könnte.

Nehmen wir es also im arrdern Sinn als ein Zeichen dcr Zeir
und freuen wir uns der Tapferkeir, die sicb darin trotz der Grenz:
pfähle zur gemeinsamen Heimat bekennr, der wir übrigen Rhein-
länder als die nächsten Nachbarn und Blutsverwandte angebören.

eutsche Selbstbekenntnisse*).

Der Titel, den Mabrbol; seiner vortrefflichen Arbeir gibt,
könntc irreführen, wenn nicht der Untertitel „§ur Geschichte der
Selbstbiographic von der Mystik bis zum Pietismus" ibn richtig-
stellte. Außerlich beüackter gibt sein Werk nur eine Zusammen:
stellung der wichtigsten deutschen Selbstbiograpbicn'vom Anfang
des 13. bis zum Ausgang des 18. Iahrhunderts in Auszügen und
mit verbindendem Tert. Aber schon, was Mabrholz in seiner Vor-
rede sagt, deutet auf ein beträchtlicbes Mebr: Mir schwebte ursprüng:
licb eine Arbeit vor über die Äufnabme Goethes und seiner Werke
in der deutschen Kritik und im dcutschen Publikum. Im Verfolg
der Dorarbeiten wurde mir dreierlei klar: einmal, daß Goethe in
seiner Zeir eigentlich kein Publikum hatte, zum rnindesten nicbt
für scine reifen und großen Werke; dann, daß soziale Motive für
die Äufnahme von Dichtwerken bei Kritik und Publikum wicktiger
sind, als ästhetischer Wert; endlich, daß es für die Erkenntnis dieses
ganzen Problemzusammenhanges notwendig ist, die umfriedeten
Bezirke der Literatur zu verlassen und die Bcwegung des Lebens
selber zu beobachten.

Diese „Bewegung des Lebens selber" glaubte Mahrholz
aus den Selbstbiographien fcsistellen zu können: „Die Haufigkeit
der autobiographischen Aufzeichnungen im 18. Iahrhundert fiel
mir auf; ich schöpfte aus ihnen zunächst Kenntnisse über das in-
time Leben des Bürgertums; nach und nach aber wurde mir klar,
daß die Häufigkeit der autobiographischen Außerungen im 18. Iahr-
hundert nicht zufällig, sondern notwendig war, und daß zwischen
der bürgerlichen Lebensform als solcher und der Autobiographie
ein innerer notwendiger Zusamincnhang walten müsse." — „Eme
Zurückverfolgung der Lebensform und der Darstellungsform des
bürgerlichen Individuums bis zu den Anfängen wurde dann nötig,
mn den Zusammenhang herzustellcn und die Entwicklung in ihrer
Ganzheit zu zeigen. So kam ich rückschauend bis ins Iahrbundert
der Mystik und verfolgte die Entwicklung vorwarts bis zum Ausgang
des Pietismus und der kleinbürgerlichen Lebensform."

Es gibt redliche und unredtiche Bücher, und die Häufigkeit
der unredlichen Bücher nimmt in dem Maße der Entfernung von
der exakten Wissenschaft zu. Niemand wird leugnen wollen, daß
die Literaturgescbichte ein bedenktiches Grenzgebiet vorstellt. Es
kann hier ebcn keine wirklicbe Aufgabe sein, etwa die Daten in
Goethes Leben erakt festzusiellen, da irgendwie dicse Daten für
das Werk Goethes unwesentlick sind. Über Goethe arbeitcn, heißt
sich in Spekulationen über sein geistiges Dasein einlassen, heißt
Bebauptungen aufstellen, die bewiesen zu sehen kein Mensck
ertragen könnte. Es kommt eben alles auf den Geisi an, der sick
mir Goethe auseinandersetzt; und eben dies verführt in neunzig
von hundert Fällen zu einem unredlichcn Buck. Statt Goethe
könnte für den Zweck dieser Feststellung natürlich jedes. andere

*) Furche Derlag, Berlin.

geistige Dasein gesetzr werden; und die Unredlichkeit liegt darin,
daß jemand mit fremdem Kalbc pflügt. Die Bücher über Goethe,
in denen es dem Derfasser in reiner Absicht nur um Goethe gebt,
sind eben so selten, wie diejenigen häufig sind, in denen der Der-
fasscr an Goethe seine Streichhölzer anstcckt.

* Diese Festsiellung war nötig, um das Buch von Mahrholz ein
redliches Buch zu nennen. Der Derfasser balt sich ungewöhnlich
zurück, und doch ist seine Zusammenstellung derarüg klug und be-
stimmt gewählt, daß sie fast mit einer Art <Lpannung gelesen wird.
Die Zucht des Verfassers teilt sicb dem Leser bald mit, so daß er
sein Äufpasfer wird, um ihm zum Schluß dankbar die Hand zn
schütteln. Wenn da mit wenigen Sätzen auf die Goetheschc Auto-
biographie gedeutet wird, so ist es keine Behauptung mehr, sondern
eine Erfahrung, wie uncndlick weit es noch von Anton Reiser und
Iung Stilling zu Goethe ist. Gerade, indem Goethe fo mit in die
Reihc gestellt wird, erkennt man die Kluft, die ihn tatsächlich von
der Bürgerlichkeit seiner Zeit trennte. Und diese Erkenntnis isi
um so tiefer, als man tatsächlich in der Mahrholzschen Auswahl
pietistischer Lebensbeschreibung einen ungehobenen Scbatz niensch-
licher Offenbarung zum wenigsten ahnen gelernt hat. Mir persön-
lick jedenfalls ist es nie in den Sinn gekommen, dem Pietismus
so viel Bedeutung und so viel Zuneigung zu geben, wie icb eS nun
nack dem Mahrholzschen Werk tue.

Was dern Verfasser als Teil seiner Aufgabe vorscbwebte,
namlich darzutun, daß Goethe in seiner Zeit zum mindesten fiir
seine reifen und großen Werke eigentlich kein Publikum hatte,
und warum das so sein mußte: das hat Mahrholz glänzend gelöst.
Mehr als das aber isi, daß er die Gegenwelt Gocthes derartig in
Beziehung zu ihm aufgedeckt, daß er nicht den Schatten irgendeiner
sentimentalen Anklage darauf geworfen, ja daß er sie auf ihre Weise
uns liebenswert gemacht hat. Es ware ein Gewinn für die Bildung
unsercr Zeit, wenn das redliche und so unauffällig tüchtige Buch
Leser und Freunde fände; denn — um eine Beziehung anzudeuten,
die der Verfasser vermeidet — ob unsere Zeit mit all ihrem litera-
rischen Getue i'o viel innerliche Tüchtigkeit in Selbstbiographien
dartun könnte, wie der so kläglich geachtete Pietismus: dies schcint
mir schon fasi keine Frage mehr. Wohl nie waren Redlickkeit und
Tüchtigkeit nötiger als heuck- S.

unnentor.

„Einige Wunder und Feste aus der Schule zu Wunnen-
tor" nennt Anton Dörfler sein kleines Buch, das auf 128 Seiten
allerlei aus einer Schule erzählt, die im alten Deutscbland nicbt
sein durfte und die im neuen Deutschland wohl noch lange nickt
sein wird: eine Schule nämlich, in der nicht die uaseweise Behörde,
sondern der Lehrer den Lehrplan bestimmt, in der die Schüler nickt
zu gchorsamen Untertanen, sondern zu deutschen Menscken erzogen
werden, in der nichts auf Abrichtung, sondern alles auf Crwcckung
ziclt. Gewiß, eine Schule zu Wunnentor mit einem Lehrer namens
Walt isi nicht unverdächtig, und tatsächlich hat ihr Iean Paul,
der breite Schwärmer, ein wenig Pate gesianden; auch ist es mit
diesem Erziehungsbüchlein wie mit so vielem anderen: seine Me-
thode allein setzt schon einen Erzieher voraus, wie er naturgemäß
nickt die Regel sein kann. Darum ist aber z. B. Pestalozzi, der un-
praktischeSchwärmer, doch zumErneuerer derDolkssckulegewordcn,
obwohl die Äusführung weit hinter seiner Idee zurückblieb. Ideen
sind eben keine Programme und dieses Büchlein ist alles andere
eber als ein Programm. Aber es versinnbildlicht die Idee einer
Sckule, und so wird es allen willkommen sein, denen der heutige
Schulbetrieb unzutänglich und falsch erscheint.

Über diese seine Besonderheit binaus hat das Büchlein von
Anton Dörfler — nicht zu verwechseln mit Peter Dörfler, der den
„Roßbub" und andere Erzählungsbücher schrieb — einen allge-
meinen literarischen Wert. In den Berickten über diese angeblicke
Schule des Lehrers Walt steckt nämlicb ein Dickter; wenn wir ihm
bis zum Schluß zugehört baben, haben wir mit seiner Seele einen
Blick in die Welt getan, die uns auf cimnal reicher und tieber
besonnt erscheint. Wir spüren nicht, so sotlte die Welt sein, sondern
so ist sie, wenn wir die Augen der Liebe aufmacben, statt mit den
Klugheiten des Dersiandes an ihr herumzufragen. So geht dieses
Bücklein in unserer Zeit wie ein Stern auf; fürs erste zwischen
all den Lampions und den Raketen der Erpressionisten recht un-
sckeinbar: aber so altmodisck ist die Welt, daß cinmal die Sterne
doch Necht behalten. S.

Für die Schriftlcitung verantwortlich der Herausgeber Wilhelm Schäfer in Ludwigshafen am Bodensee. — Druck und Verlag A. Bagel,
Düsteldorf. — Gedruckt mit Farben der Hostmann - Steinbergschen Farbenfabrikcn, G. m. b. H., Celle (Hannover). — Redaktionellc
Sendungen sind ausschließlich an den Herausgeber Wilhelm Schäfer, Bodensee-Ludwigshafen, zu richten. — Für unverlangte Manuskcipte
und Rezensivns-Eremplare wird keine Deipflichtung übernommen. - Rückporto ist beizulegrn.
 
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