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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 30.1920

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Heft 1
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Schäfer, Wilhelm: Das Schulbuch der Götter: aus der Geschichte der deutschen Seele
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https://doi.org/10.11588/diglit.26486#0043

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as Schuldbuch der Götter.

Aus der Geschichte der deutschen Seele.
Ven Wilhelm Schäfer.

Er.

Inr Anfang war Er, der hrminlische Gott; die Erde
grünte in Seiner Sonne.

Jm ewigen Gleichmaß kam Er zu schauen die Schöne
Seiner Geliebten, die imchlinkenden Glanz der Gewässer,
im stummen Stand der reifenden Halme, in den Un-
tiefen schwellender Kelche die Seligkeit Seiner lust-
wandelnden Liebe genoß.

Wenn Sein Himmel die Erde umspannte mit Bläue,
wenn Sein Auge den Raum durchsonnte mit Licht,
das Meer und die Berge beschüttend mit wärmendem
Feuer, wenn der Mittag stand über der Welt, daß sie
den Atem anhielt, erschauernd in Fülle: dann tvar
Seine Stunde.

Stark und stetig im Gang Seiner steigenden Bahn
ließ Er den Morgen erröten, Er trank den Tuu aus dem
Gras, daß Blätter und Halme kristallisch funkelten,
Seinen Bogen zu bauen.

Wonnig und warm ließ Er den Abend anschivellen
zum Segen der Nacht; Sein Geleucht blieb zurück.in
lohender Glut und wartete still im Glanz Seiner Ge-
stirne.

Und wie den Tag hielt Er das Jahr in unverrückbarer
Schwebe: Er ließ die Sehnsucht der Erde blühen im
Schaum des Frühlings, Er begoß ihre Träume mit
zärtlichem Regen, Er ließ ihre Brüste schwellen in
himmlischer Nahrung und ibren Leib schwer werden
ini Segen der Frucht.

So war Er der himmlische Gott; ob sie Jhn Ear oder
Ziu, Tyr oder Aiwaz, Thys oder Thingsu nannten:
keinen anderen gab es im Hinimel, Seine dNacht zu be-
streiten.

Nur die ewige Mutter des irdischen Lebens trat mit
Liebe Jhm bei in Sein starkes Geheimnis.

Die Götter.

Aber Himmel und Erde kamen ins Wanken; Wolken
stiegen vom Abgrund, das zärtliche Auge verhüllend;
die Wasser begannen zu strömen, und alles Leben versank.

Stärker als Er schien die entfesselte Kraft und höher
als Liebe der Aufruhr: Pmir, das rauschende Naß,
ecfüllte die Welt; seine Söhne, die Reifriesen, herrschten
über dem Abgrund.

Aus Urgebrausdunkel aber kamen die Mächte ans
Licht: Urluft, Urwasser, Urfeuer; sie hoben das Erden-
rund wieder und schieden Midgard vom Meer.

Noch irrten die Sonne, der Mond und die Sterne
planlos umher, sie setzten sie ein in die ewigen Bahnen:
dann schien die Sonne auf Midgard und ließ wachsen
das erste Grün.

Als sie gingen am Strand, fanden sie Bäume da-
stehen und weckten Menschen daraus: Urluft gab die
suchende Seele, Urwasser die wachsamen Sinne, Urfeuer
die Farbe des Lebens.

Sie hießen nun Gölter, Wuotan, Hoenir und Loki
genannt von den Menschen; sie taten der Welt den

Richterspruch auf ihres neuen Gesetzes und fingen das
goldene Aeitalter an ihrer heiteren S^iele.

Sie kannten nicht Schuld und Schicksal, bis die drei
Urwassertöchter kamen aus Riesengeschlecht, die weit-
aus gewaltigsten Weiber: Urd war die älteste Schwester
genannt, der Herkunft beilige Norne; Verdandi die
zweite, des Werdenden Mahnung, die dritte der Zukunft
drohende Schuld.

Sie schnitten Runen, warfen die Lose und sagten
das Leben voraus; sie saßen am Brunnen des Lebens,
zu pflegen den Welteschenbaum daran das Dasein
der Götter verbunden hing dem Schicksal der Welt.

Der Kampf mit den Vanen.

Aber Er war nicht tot; aus unendlichen Fernen
blinkte Sein Gold und entzückte die Gier der Götter
nach Seinem gleißenden Glanz; sie schufen den licht-
scheuen Schwarm der albischen Geister und Zwerge,
das Gold zu erlisten für ihre Burg, die sie bauten in
Asgard.

Die aus dem Urdunkel kamen und aus dem Kam;.f
mit den Riesengewalten, die hoch gestiegenen Götter
sagten der himmlischen Herkunft Urfehde an.

Da wurde die Walstatt laut vom Kampf dtw alten
und neuen Gewalten; Vanen bießen die Kämpfer des
Himmlischen da, und Asen die Urdunkelsöhne: die Erde
barst, und der Abgrund erbebte, als Vanen und Asen um
die Herrschaft rangen der neugewordenen Welt.

Aber der brausende Sturmwind entwand der leuch-
tenden Fülle das Schwert, und müde schwand in dic
bimnrliscbe Ferne der Gott, Wuotan der wehenden
Unrast die Welt überlassend.

Nun kam Er nicht mehr zu schauen die Schöne
Seiner Geliebten; abgelöst von der ewigen Fülle ging
sie ein in die Schuld und das Schicksal der asischen Götter,
denen Wuotan Allvater war.

Freya und Fro, die lieblichen Kinder der Vanen,
wurden den Asen vergeiselt; die im ewigen Licht spielten,
spürten den Wind und die Wolken um Asgard und die
Schicksalsansagung der Nornen.

Wuotan.

Die Asen sandten Hoenir als Geisel und gaben ihm
Mimir zur Seite, den Weisen aus Urwassertiefe, daß er
den Bruder Wuotans heimlich beriete.

Hoenir aber war blöde, darum erschlugen die Vanen
den Mimir und sandten sein Haupt den Asen zurück;
Wuotan sprach seinen Aauber über dem Haupt, daß es
nicht wese, und hütete seiner im Brunnen an Vgdrasils
Wurzeln.

Täglich ging er binunter zum Wasser, die Weisbeit
Mimirs zu wecken, und setzte sein Auge znm Pfand dem
klagenden Haupt: so saß er einäugig da im Rat der
asischen Götter, der ihr Notsorger und Wahrsager war.

Scharf spähte sein Auge trotzdem wie keins in Wal-
hall, und höhere Weisheit ward ihm als einem der Götter;
auf seinen Schultern saßen die Raben Gedank und
Gedenk, ihm taglich Kunde zu bringen von allem Er-
eignis der Welt.

Auch hieß er der Wanderer, weil er im Wind unter-
wegs war; wo die Räder der Wolkenlast rollten, wo die
 
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