Meisterwerke altdeutscher Plastik
Zur Ausftellung im Wiesbadener Museum.
„Die deutsche Kunstwissenschaft hat sich von Winckel-
mann bis Burckardt und Justi stets mehr nnt fremder
als mit deutscher Kunst beschäftigt." Dieses Geständnis,
das Gg. Dehio in der Einleitung des soeben erschienenen
ersten Bandes seiner prachtvollen Deutschen Kunst-
geschichte ablegte, möchte ich diesen Aeilen voransetzen;
es gibt die Erklärung dafür, daß >vir heute vor der
unendlich beschämenden Tatsache stehen,von allen Werken
der Kunst gerade diejenigen am wenigsten zu kennen,
die mehr noch als die viel spärlicheren und erst am Ende
der Epoche zum Gipfelpunkt aufsteigenden Werke der
Malerei berufen sind, Aeugnis von dem schier uber-
wältigenden Reichtum und der Größe künstlerischer
Schöpferkraft abzulegen, die unsere Nation in dem von
gärendem Leben auf allen Gebieten überschäumenden
deutschen O.uattrocento erfüllten. Während wir, allen
anderen voran, kostbare Prunkwerke über die toskanische
Plastik, über die Trajanssäule und die ganze Antike
edierten, bekümmerten wir uns bis in die jüngste Aeit
nicht um das, was uns am meisten anging. Was an
größeren Sammelwerken vorhanden ist, fcheint eher
geeignet, von dem Studium unserer alten Plastik ab-
zuschrecken, als zu ihr hinzuzuleiten. Jst es doch dem
Schreiber dieser Aeilen
selbst passiert, daß er sich
jahrelang durch den nieder-
schmetternden Eindruck,den
die deutsche Plastik in der
Sammlung des von Reber
und Beiersdorfer her-
ausgegebenen „Klassischen
Skulpturenschatzes" auf ihn
machte, von der Ver-
wirklichung seines Ausstel-
lungsplanes ablenken ließ.
Und selbst die letzte popu-
läre Publikation des so
überaus verdienstvollen
Verlages von Rob. Lange-
wiescheüber mittelalterliche
Plastik vermittelt zwar
von der ersten Hochblüte
des 13. Jahrhunderts eine
leidliche Anschauung, aber
von der Spatgotik gibt
auch sie eine völlig irre-
führende Vorstellung, die
gänzlich ungeeignet ist,
dieser Freunde zu erwer-
ben; denn man kommt
cmch hier zu dem Gesamt-
eindruck „Schwächlichkeit
und Spießigkeit". Diese
Werke und ihre Urheber
trifft dabei die geringste
Schuld, denn sie konnten
nicht abbilden, was nicht photographiert ivar.
Für die Aufnahmen der Trajanssäule oder der antiken
und italienischen Denkmale standen große Staats-
unterstützungen zur Verfügung, für die der deutschen
Kunst, wenn ich nicht sehr irre, überhaupt keine. So
kam es denn, daß von zweien der an innerem Wert
wie an äußerem Umfang größten Hauptleistungen
deutscher Kunst, dem Marienaltar des Veit Stoß in
Krakau mit seinen 13 Kolossalfiguren nebst 18 Riesen-
reliefs von je m Seitenlänge, und dem Hochaltar
der Kilianskirche in Heilbronn, entweder, wie bei dem
letzteren, Aufnahmen der Hauptteile überhaupt nicht
eristierten, als die Wiesbadener Gesellschaft für bil-
dende Kunst*) 1913 ihre Arbeit begann, oder, wie beim
Krakauer Altar, nur solche, die nicht im Handel befindlich
lediglich den Mitgliedern des Krakauer Altertrlmsvereins
zugänglich waren. Von dem großen durch diesen heraus-
gegebenen Prachtwerke aber gelangten ganze vier oder
fünf Eremplare nach deutschen Bibliotheken, wo sie im
wesentlichen so gut wie begraben liegen. Nur so erklärt
es sich, daß über einen Künstler von höchstem Rang,
eben unseren Veit Stoß, in der kunstwissenschaft-
lichen Literatur sich gleich einer ewigen Krankheit das
Urteil fortpflanzen konnte,
es fehle ihm an Ausdruck
und Jnnerlichkeit, er sei
„lärnrend und leer", und
wie die schönen Prädikate,
die einer dem anderen
nachsprach, lauten. Sämt-
liche Biographen des Veit
Stoß hatten für den Wert
der herrlichen Krakauer
Reliefs offensichtlich keiner-
lei Empfindung, wie schon
die Tatsache beweist, daß
man in den überreich be-
bilderten Werken der
Autoren nicht eine, oder
genauer gesagt eine einzige
kaum 6 cm große Abbil-
dung von diesen findet.
Wenn also nicht einmal
bisher die deutsche Kunst-
wissenschaft Weizen und
Spreu reinlich zu sondern
verstand — was sich auch
in der Unterbringung der
WerkealtdeutscherPlastikin
Altertums- und Kunstge-
werbemuseen ausspricht,
*) Seit1916 mitdemNassau-
ischen Kunstverein verschmolzen
unter dem Namen „Nassau-
ischer Kunstverein und Wies-
badener Gesellschaft für bil-
dende Kunst".
Abb. 1. Deit Stoß: Iohanneskopf aus dem Relief der Himmelfahrt
Christi am Krakauer Marienaltar. Aufn. des Krakauer Altertums-
vereins; Vergr. für die Wiesbadener Gesellsch. für bildende Kunst.
Zur Ausftellung im Wiesbadener Museum.
„Die deutsche Kunstwissenschaft hat sich von Winckel-
mann bis Burckardt und Justi stets mehr nnt fremder
als mit deutscher Kunst beschäftigt." Dieses Geständnis,
das Gg. Dehio in der Einleitung des soeben erschienenen
ersten Bandes seiner prachtvollen Deutschen Kunst-
geschichte ablegte, möchte ich diesen Aeilen voransetzen;
es gibt die Erklärung dafür, daß >vir heute vor der
unendlich beschämenden Tatsache stehen,von allen Werken
der Kunst gerade diejenigen am wenigsten zu kennen,
die mehr noch als die viel spärlicheren und erst am Ende
der Epoche zum Gipfelpunkt aufsteigenden Werke der
Malerei berufen sind, Aeugnis von dem schier uber-
wältigenden Reichtum und der Größe künstlerischer
Schöpferkraft abzulegen, die unsere Nation in dem von
gärendem Leben auf allen Gebieten überschäumenden
deutschen O.uattrocento erfüllten. Während wir, allen
anderen voran, kostbare Prunkwerke über die toskanische
Plastik, über die Trajanssäule und die ganze Antike
edierten, bekümmerten wir uns bis in die jüngste Aeit
nicht um das, was uns am meisten anging. Was an
größeren Sammelwerken vorhanden ist, fcheint eher
geeignet, von dem Studium unserer alten Plastik ab-
zuschrecken, als zu ihr hinzuzuleiten. Jst es doch dem
Schreiber dieser Aeilen
selbst passiert, daß er sich
jahrelang durch den nieder-
schmetternden Eindruck,den
die deutsche Plastik in der
Sammlung des von Reber
und Beiersdorfer her-
ausgegebenen „Klassischen
Skulpturenschatzes" auf ihn
machte, von der Ver-
wirklichung seines Ausstel-
lungsplanes ablenken ließ.
Und selbst die letzte popu-
läre Publikation des so
überaus verdienstvollen
Verlages von Rob. Lange-
wiescheüber mittelalterliche
Plastik vermittelt zwar
von der ersten Hochblüte
des 13. Jahrhunderts eine
leidliche Anschauung, aber
von der Spatgotik gibt
auch sie eine völlig irre-
führende Vorstellung, die
gänzlich ungeeignet ist,
dieser Freunde zu erwer-
ben; denn man kommt
cmch hier zu dem Gesamt-
eindruck „Schwächlichkeit
und Spießigkeit". Diese
Werke und ihre Urheber
trifft dabei die geringste
Schuld, denn sie konnten
nicht abbilden, was nicht photographiert ivar.
Für die Aufnahmen der Trajanssäule oder der antiken
und italienischen Denkmale standen große Staats-
unterstützungen zur Verfügung, für die der deutschen
Kunst, wenn ich nicht sehr irre, überhaupt keine. So
kam es denn, daß von zweien der an innerem Wert
wie an äußerem Umfang größten Hauptleistungen
deutscher Kunst, dem Marienaltar des Veit Stoß in
Krakau mit seinen 13 Kolossalfiguren nebst 18 Riesen-
reliefs von je m Seitenlänge, und dem Hochaltar
der Kilianskirche in Heilbronn, entweder, wie bei dem
letzteren, Aufnahmen der Hauptteile überhaupt nicht
eristierten, als die Wiesbadener Gesellschaft für bil-
dende Kunst*) 1913 ihre Arbeit begann, oder, wie beim
Krakauer Altar, nur solche, die nicht im Handel befindlich
lediglich den Mitgliedern des Krakauer Altertrlmsvereins
zugänglich waren. Von dem großen durch diesen heraus-
gegebenen Prachtwerke aber gelangten ganze vier oder
fünf Eremplare nach deutschen Bibliotheken, wo sie im
wesentlichen so gut wie begraben liegen. Nur so erklärt
es sich, daß über einen Künstler von höchstem Rang,
eben unseren Veit Stoß, in der kunstwissenschaft-
lichen Literatur sich gleich einer ewigen Krankheit das
Urteil fortpflanzen konnte,
es fehle ihm an Ausdruck
und Jnnerlichkeit, er sei
„lärnrend und leer", und
wie die schönen Prädikate,
die einer dem anderen
nachsprach, lauten. Sämt-
liche Biographen des Veit
Stoß hatten für den Wert
der herrlichen Krakauer
Reliefs offensichtlich keiner-
lei Empfindung, wie schon
die Tatsache beweist, daß
man in den überreich be-
bilderten Werken der
Autoren nicht eine, oder
genauer gesagt eine einzige
kaum 6 cm große Abbil-
dung von diesen findet.
Wenn also nicht einmal
bisher die deutsche Kunst-
wissenschaft Weizen und
Spreu reinlich zu sondern
verstand — was sich auch
in der Unterbringung der
WerkealtdeutscherPlastikin
Altertums- und Kunstge-
werbemuseen ausspricht,
*) Seit1916 mitdemNassau-
ischen Kunstverein verschmolzen
unter dem Namen „Nassau-
ischer Kunstverein und Wies-
badener Gesellschaft für bil-
dende Kunst".
Abb. 1. Deit Stoß: Iohanneskopf aus dem Relief der Himmelfahrt
Christi am Krakauer Marienaltar. Aufn. des Krakauer Altertums-
vereins; Vergr. für die Wiesbadener Gesellsch. für bildende Kunst.